Weites Land der Sehnsucht: Australien-Roman (German Edition)
aus…«
» Ganz allein?«
Ihr Vater hustete ungeduldig. » Ich war bei den Herren Wilkinson & Cross, um den Namen des… zu erfragen.«
» Und?«, fragte Claire. » Wer ist es?«
» Sie konnten mir nicht mehr sagen, als wir bereits wissen. Du, meine Liebe, musst großen Eindruck auf eine wohlhabende Persönlichkeit gemacht haben, und dieser Mann hat beschlossen, deine Ausbildung zu seiner Sache zu machen.«
» Seine Sache«, erwiderte Claire empört. Sie war ganz gewiss keine Sache.
» Das sind Mr Wilkinsons Worte, Claire, nicht meine. Ich spiele hier sowieso nur eine Nebenrolle.«
Claire tätschelte ihrem Vater die Hand. Mrs Cole hatte erst kürzlich geäußert, dass Claires Wohltäter ihren Vater in gewisser Weise überflüssig gemacht habe. » Für mich spielst du die wichtigste Rolle, Vater.« Er lächelte sie an und zeigte dabei sein schadhaftes Gebiss.
Claire kam es sehr ungewöhnlich vor, dass jemand ihr solche Wohltaten erweisen wollte, seine Identität jedoch geheim hielt. Was hatte er denn davon, wenn sie sich noch nicht einmal bei ihm bedanken konnte? Sie brauchte jetzt nicht einmal mehr ihre Stelle bei der alten Mrs Medway zu behalten, und sie musste auch nicht mehr putzen und kochen. Ihre Tage waren jetzt frei von allen Verpflichtungen, ein Gedanke, der sie faszinierte und ängstigte zugleich, denn wie würde sie jetzt ihre freie Zeit ausfüllen? Aber auch daran hatte ihr Wohltäter anscheinend gedacht, denn jetzt sollte sie auch noch Unterricht erhalten.
» Tee, Mr Whittaker?« Mrs Cole trat ins Zimmer und brachte ein Tablett mit Gebäck und Tee.
» Ich soll Unterricht erhalten«, verkündete Claire fröhlich. » Von einem Privatlehrer.«
Mrs Cole nickte. » Sie werden jetzt ein feines Leben führen, Miss.«
» Danke.« Claires Vater nahm die Tasse Tee entgegen und reichte ihr einen Brief. » Für Sie, Mrs Cole.«
Mrs Cole studierte die Handschrift. » Er ist von meiner Schwester. Ich habe nichts mehr von ihr gehört, seit…«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Claires Vater stellte seine Tasse und die Untertasse auf seinem Knie ab.
» Ich freue mich schon aufs Abendessen.«
Als Mrs Cole gegangen war, runzelte Claire nachdenklich die Stirn. » Das war ein wenig seltsam, Vater.«
» In der Tat. Aber wir können nur darauf vertrauen, dass dein Wohltäter unsere neue Haushälterin schon richtig beurteilt hat.«
Sie hatten Mrs Cole nicht wegschicken können, da sie mit ihrem Gepäck und einem Anstellungsschreiben von Wilkinson & Cross vor ihrer Tür gestanden hatte. Innerhalb eines Tages hatte sie sich in dem kleinen Dienstbotenzimmer hinter der Küche eingerichtet, und zwei Monate später fragte sich Claire, wie sie es jemals allein geschafft hatte, sich um das Haus, das Essen und Einkaufen und die Pflege ihres Vaters zu kümmern. » Die Tatsache bleibt bestehen, dass wir wenig über sie wissen, Vater.«
» Im Gegenteil, meine liebe Claire, wir wissen immerhin, dass sie gut kochen kann.«
Nach all der Aufregung des Tages fand Claire den Entenbraten seltsam unbefriedigend. Sie hatte das Fleisch noch nie gegessen und war überrascht, wie sehr sie sich auf einmal nach der Gemüsesuppe ihrer Mutter mit einem ordentlichen Stück frischen Brots dazu sehnte. Nach dem Essen ging sie in ihr Zimmer im zweiten Stock des Reihenhauses. Ein Fenster ging auf ihren kleinen Garten und Mrs Coles Gemüsebeet hinaus. Dahinter verlief ein Weg an den Gärten entlang. Am Tag ging sie manchmal in ihr Zimmer, um sich anzuschauen, was auf dem Weg so alles los war: Kleine Kinder spielten im Dreck, Paare stritten sich, und der Kohlenhändler kam vorbei. Jetzt hörte sie in der Ferne die Nachtkarren rumpeln, die durch die Straßen fuhren und die Außentoiletten leerten. Im Zimmer nebenan schnarchte ihr Vater.
Claire kniete sich neben das kleine Fenster und blickte zu den Sternen am samtschwarzen Himmel. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, mit welcher guten Tat sie ihr jetziges Glück verdient hatte. Sie hatte schon häufig eine Besorgung für Bekannte gemacht oder jemandem auf irgendeine Weise Beistand geleistet, aber niemand, den sie kannte, war so reich, um der Klient zu sein, auf den sich Wilkinson & Cross so geheimnisvoll bezogen.
» Und jetzt bekomme ich Unterricht«, flüsterte sie. Sie dachte an ihre Mutter mit ihren Lesebüchern und ihrer Schultafel. Sie hatte ihr nur Grundlagen vermitteln können. Claire kniff sich in den Arm. Aber nein, es war kein Traum, vor allem nicht das
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