Weites Land der Träume
stürmte Alice an ihm vorbei.
»Oh, Dummerchen, nein!«, rief sie entgeistert aus.
Die Ziege stand mitten in Tante Beas liebevoll gepflegtem Blumenbeet und blickte sie treuherzig an. Der Ärmel von Onkel Rays bestem Sonntagshemd hing ihr aus dem Maul. In diesem Moment kam Onkel Ray hinten aus dem Haus und sah den Schaden. Erst malte sich Entsetzen, dann Wut in seinem Gesicht. Mit eiskalter Miene blickte er Alice an und gab ihr keine Gelegenheit, ihre Unschuld zu beteuern.
»Kannst du denn kein Tor zumachen, du dumme Göre?«, brüllte er. »Ich werde diese Ziege abknallen.«
Alice wurden die Knie weich. Sie wusste, dass es zwecklos war zu erklären, dass sie das Tor vor der Abfahrt fest geschlossen und es zwei Mal überprüft hatte. Als sie gesenkten Kopfes zum Haus zurückkehrte, fiel ihr ein, dass Dan in letzter Minute noch einmal aus dem Wagen gesprungen war.
Da sie zu sehr damit beschäftigt gewesen war, eingeklemmt zwischen Buddy und Katie und mit Ben auf dem Schoß einen einigermaßen bequemen Sitzplatz zu finden, hatte sie nicht darauf geachtet. Plötzlich fühlte sie sich schrecklich einsam und sehnte sich nach ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem Zuhause, so wie es früher gewesen war. Als Ben wortlos ihre Hand nahm, spürte sie, wie ihr die Tränen in die Augen traten.
»Er wird doch Dummerchen nicht wirklich erschießen, oder?«, flüsterte Ben.
Alice schluckte und schüttelte tapfer den Kopf. Doch tief in ihrem Herzen war sie sich nicht sicher. Von nun an wurden die mit Dummerchen verbrachten Minuten noch kostbarer für sie, und sie konnte die Rückkehr ihres Vaters kaum erwarten.
Die Post kam zwei Mal pro Woche, und Alice hoffte stets auf eine weitere Postkarte. Doch die Wochen wurden zu Monaten, ohne dass sie eine Nachricht erhielt. Zuversichtlich, wie es ihrem Naturell entsprach, tat Alice ihre Zweifel ab und versuchte, an etwas anderes zu denken. Zu Tante Beas Freude wollte sie alles über die Arbeit in Haus, Garten und Gemeinde lernen – ganz im Gegenteil zu Katie, die zum Leidwesen ihrer Mutter nicht das geringste Interesse daran hatte.
Eines Nachmittags, zwei Wochen vor Alices Geburtstag im August, nahm Tante Bea sie mit zu den Evans. Die Fahrt von Billabrin zum Haus der Familie dauerte auf der Staubpiste über zwei Stunden; Tante Bea wollte dort nach dem jüngsten Kind einer Freundin sehen, das unter einem seltsamen Ausschlag litt. Bea und Ray waren beide fromme Katholiken und als regelmäßige Kirchgänger in der Gemeinde hoch geachtet. Obwohl Bea keine ausgebildete Krankenschwester war, kannte sie sich mit den Heilkräften von Kräutern aus, Wissen, das ihre Mutter ihr vermittelt hatte. Deshalb wurde sie oft bei kleineren Beschwerden gerufen. Als bei der Geburt ihres zweiten Sohnes Patrick die Wehen früher als erwartet eingesetzt hatten, hatte Bea das Kind nur mit der Hilfe einer Nachbarin zur Welt gebracht. Zwischen den Wehen hatte sie vom Bett aus Anweisungen gegeben und die Nabelschnur mit einer Schneiderschere und einer Spule Zwirn durchtrennt. Vater O’Reilly, der kurz nach Patricks Geburt eingetroffen war, um Mutter und Kind zu segnen und mit dem stolzen Vater einen Schluck Whisky zu trinken, verbreitete die Geschichte in der ganzen Umgebung, und als Bea drei Wochen später einer Freundin half, ihr Baby zur Welt zu bringen, wurde sie zur inoffiziellen Hebamme des Bezirks. Häufig bat man sie um Unterstützung und sie kümmerte sich auch liebevoll um Haustiere und deren Nachwuchs.
»Ich brauche deine Hilfe, und du kannst etwas dabei lernen«, meinte Tante Bea mit einem kurzen Blick auf den wolkenverhangenen Himmel.
»Und ich habe etwas, das ich Daddy erzählen kann, wenn er an meinem Geburtstag zurückkommt!«, rief Alice und nahm neben der Ausrüstung in dem verbeulten Pickup Platz. Bei den Evans reichte sie Tante Bea auf Anweisung vorsichtig alles Nötige aus der Tasche und kümmerte sich dann um die jüngeren Geschwister, während ihre Tante mit der Mutter des erkrankten Kindes sprach. Aus Dankbarkeit schenkte Mr. Evans ihnen ein frisch geschlachtetes Lamm – eine rare Köstlichkeit und willkommene Abwechslung vom ständigen Ziegenfleisch. Sie hatte es ordentlich in zwei flache Kartons verpackt und mit Gaze vor Fliegen geschützt. Es kostete sie einige Überredungskunst, Tante Bea dazu zu bringen, das Geschenk anzunehmen. Alice sollte das Fleisch nach ihrer Rückkehr im Kühlschrank verstauen.
Ihre Freude über das Abenteuer wurde durch kräftige Regengüsse auf der
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