Weites Land der Träume
ein. An Katies Hinterhältigkeit änderte sich zwar nichts, aber die Zwillinge schlugen wenigstens nicht mehr so häufig über die Stränge, auch wenn sie ihre Streiche weiter fortsetzten. Da Alice von ihrer Cousine keine Freundschaft mehr erwartete, war sie eher erleichtert als enttäuscht, als Katie sich dreist vor dem Ziegenmelken drückte. Sie hatte schon bald herausgefunden, dass Katie Melken nicht nur hasste, sondern sich dabei auch ziemlich ungeschickt anstellte. Die Ziegen traten nervös um sich oder versuchten zu fliehen, sobald sie sich ihnen näherte. Wenn Tante Bea nicht dabei war, schlugen die Tiere auch nach dem Milcheimer aus, sodass das tägliche Melken in einen regelrechten Kampf ausartete. Natürlich schob Katie alle Schuld auf Alice, worauf Tante Bea, der ihre schlanke Nichte mit den großen Augen ans Herz gewachsen war, um des lieben Friedens vorschlug, Katie solle sich um das Frühstück kümmern, während Alice und Ben das Melken besorgten.
Alice gab jeder Ziege einen Namen und überschüttete die Tiere mit Liebe und Zuneigung. Weil sie sie jeden Tag mit Essensresten fütterte, kamen sie bald angelaufen, wenn sie sie rief. Ihre Lieblingsziege war die struppigste mit dem Knickohr, die anstelle von Hörnern nur seltsame Stummel hatte. Alice hatte sich schon am ersten Tag in sie verliebt und taufte sie wegen ihres schmachtenden Blicks auf den Namen »Dummerchen«.
Jeden Nachmittag nach der Schule eilte sie mit Kartoffelschalen und Apfelresten über die Koppeln zu den Ziegen, um ihren vierbeinigen Freunden von den Ereignissen des Tages zu berichten. Dummerchen erwartete sie stets an derselben Stelle am Ufer des Flusses, der rings um das Städtchen verlief. Wenn Alice sie rief, schaute die Ziege sie seelenvoll aus braunen Augen an und meckerte kläglich. Im nächsten Moment stürmte sie mit gesenktem Kopf auf Alice zu, voller Vorfreude auf die Leckereien, die ihre Rocktaschen ausbeulten. Dann schlang Alice die Arme um den Hals der Ziege, schmiegte die Wange an ihr raues braunes Fell und streichelte ihr verkrüppeltes Ohr.
»Bestimmt kommt mit der nächsten Post eine Karte«, flüsterte Alice eines Nachmittags, zwei Wochen nach der Abreise ihres Vaters, Dummerchen voller Hoffnung zu. Und als die sehnlich erwartete Karte, mit schwarzer Tinte in einer kleinen Handschrift bekritzelt und voller Versprechungen, schließlich eintraf, zeigte Alice sie aufgeregt Dummerchen, die nur traurig meckerte und sie auffressen wollte. Mit einem glücklichen Auflachen zog Alice die Karte blitzschnell weg.
Auch in der Schule kehrte langsam der Alltag ein, obwohl Alice wusste, dass sie sich irgendwann der Auseinandersetzung mit Grunz würde stellen müssen. Doch an dem Tag, an dem ihre und Bens »Quarantäne« offiziell auslief, erfuhr sie, dass Grunz sich eine geheimnisvolle Krankheit zugezogen hatte, die ihn mehrere Wochen ans Bett fesseln würde. Alice war außer sich vor Freude. Ihre Zuversicht wuchs, als sie feststellte, dass sonst niemand an der Durchführung der »Aufnahmezeremonie« Interesse zu haben schien. Auch ihr Selbstbewusstsein im Unterricht nahm zu, die Lehrerin lobte sie häufig, wodurch sie in der Achtung ihrer Mitschüler stieg. Bald schon meldete sich ihre unstillbare Wissbegier wieder.
Als die Zwillinge im Juni ihren siebten Geburtstag feierten, versprach Tante Bea ihnen ein Picknick mit Schokoladenkuchen. Es hätte ein wunderschöner Tag werden können, wenn Tante Bea nicht kurz vor dem Aufbruch zu Freunden gerufen worden wäre, deren Hund Schwierigkeiten hatte, seine Welpen zur Welt zu bringen. Onkel Ray verschwand, Arbeit vorschützend, mit Buddy im Laden, und Katie lief zu einer Freundin, die gegenüber wohnte. So blieben Alice und Ben mit den völlig außer Rand und Band geratenen Zwillingen allein zurück.
In der nächsten halben Stunde jagten Don und Dan einander durch den Hof, ließen die Tore zwischen Garten und Koppeln knallen und tobten, während sie die Motorengeräusche von Rennwagen nachahmten, durch die Beete. Endlich kehrte Tante Bea zurück. Erleichtert half Alice ihr den Picknickkorb zusammenzustellen und scheuchte die überdrehten Kinder hinten in den Pickup.
Nachdem Dan noch aus dem Wagen gesprungen war, um seine Mütze zu holen, machten sich Tante Bea und die sechs Kinder auf den Weg zum Fluss. Als sie am Abend zurückkehrten, wartete jedoch eine böse Überraschung auf sie. Buddy entdeckte Dummerchen zuerst und blieb lachend vor dem Tor stehen. Mit einem Schreckensschrei
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