Weites Land der Träume
traurig und niedergeschlagen.
»Ich habe aber etwas dagegen«, zischte Onkel Ray.
»Ach, Onkel Ray …« Alice wusste nicht, woher sie an diesem Morgen den Mut nahm. Vielleicht lag es an ihrem starken Gefühl von vorhin, ihre Mutter sei ganz in der Nähe. Möglicherweise war es auch die Bestätigung, die Tante Bea ihr vermittelt hatte, als sie in die Küche gekommen war. Es konnte auch daran liegen, dass sie erst neun Jahre alt und der Geburtstag eigentlich der Tag war, an dem man ungestraft tun und lassen konnte, was man wollte. Onkel Ray stand auf und schob den leeren Teller weg. Laut schrappte sein Stuhl über den Fliesenboden.
»Geburtstag hin oder her, mein Fräulein. Kein Kind aus dieser Familie geht mit Haaren in die Schule, die herumfliegen wie bei einer Schlampe. Bitte deine Tante, dich ordentlich zu frisieren.«
Alices Augen blitzten empört.
»Jetzt iss auf, und dann kümmern wir uns zusammen um deine Haare«, schlug Tante Bea hastig vor. »Wenn wir weiter unsere Zeit mit Reden vergeuden, kommst du noch zu spät in die Schule, und dann gibt es Schwierigkeiten. Mit den Schleifen bist du doch einverstanden, oder?«, fügte sie mit einem Blick auf ihren Mann hinzu. Onkel Ray stieß nur ein Grunzen aus.
»Dämliche Dinger«, murmelte er und ging hinaus.
»Heute Nachmittag zum Geburtstagstee kannst du es offen tragen«, flüsterte Tante Bea verschwörerisch, während sie die Schleifen aus Alices wirren Locken zog und anfing, sie zu bürsten. Die anderen Kinder scheuchte sie hinaus, damit sie sich die Zähne putzten.
»Gibt es denn einen Geburtstagstee?«, fragte Alice erstaunt.
»Aber natürlich«, antwortete Tante Bea mit einem Nicken. »Und jetzt halt still.« Ohne auf diese letzte Anweisung zu achten, schlang Alice ihrer Tante die Arme um die umfangreiche Taille und drückte sie fest an sich. Die Schürze kitzelte sie am Kinn, als sie sagte: »Tante Bea, ich liebe dich. Vielen Dank.«
»Willst du mich ersticken? Und jetzt lass mich deinen schönsten Schmuck herrichten«, scherzte Tante Bea liebevoll und bürstete weiter. Geschickt kämmte sie Alice das ungebärdige dunkle Haar aus dem Gesicht, flocht es zu zwei seidigen Zöpfen, knotete die beiden Bänder zu dicken Schleifen und trat dann zurück, um ihr Werk zu bewundern.
»Also, mein Kind. Das ist ein Kompromiss, mit dem dein Dad und dein Onkel Ray einverstanden sein können.«
Als Bea ihren Vater erwähnte, erschien ein sehnsüchtiger Ausdruck auf Alices Gesicht. Dann nahm sie lächelnd einen ihrer Zöpfe und strich liebevoll über die glänzende Schleife.
»Ich wusste, du verstehst mich«, meinte sie leise. »Darf ich die Haare wirklich offen tragen, wenn ich heute Nachmittag nach Hause komme?«
Tante Bea bückte sich und hauchte ihr einen Kuss auf den Scheitel. Dann schob sie sie sanft zur Tür. Währenddessen kamen die Zwillinge laut streitend hereingestürmt, und Katie und Buddy versuchten, sich gleichzeitig durch die Tür zu drängen, weil jeder der Erste sein wollte. »Natürlich darfst du, mein Schatz. Und jetzt geh und hab viel Spaß in der Schule.«
Alice zwinkerte Ben zu, der plötzlich neben ihr stand. Alles würde gut werden, und die Freude, die sie empfunden hatte, als sie Dummerchen um den Hals gefallen war, kehrte zurück. Ein Geburtstag mit den Cousins konnte also auch schön werden. Sie hüpfte aus dem Haus und hinter den anderen her die Stufen der Veranda hinab.
Doch als Alice durch das Schultor trat, war ihr Hochgefühl mit einem Mal wie weggeblasen. Damien Grant stand da, flankiert von Dunk und Flos, und starrte ihr entgegen.
Sie war machtlos, was die Entwicklung des restlichen Tags anging. Fest entschlossen, sich von Grunz’ Gegenwart nicht den Geburtstag verderben zu lassen, beteiligte sie sich am Unterricht und tat, als wäre er nicht vorhanden. Dennoch spürte sie, wie sich ihr seine Blicke in den Rücken bohrten, als sie auf dem Schulhof wartete, bis sie mit dem Seilspringen an der Reihe war. Obwohl es ihr die Nackenhaare aufstellte, meldete sie sich, wie sie es sich während seiner Abwesenheit angewöhnt hatte, immer wieder im Unterricht. Hartnäckig überhörte sie die warnende innere Stimme, die ihr zu Zurückhaltung riet, und trotzig beantwortete sie alle Fragen, und wurde immer mutiger, bis Damien schließlich eine Aufgabe gestellt bekam, die er nicht lösen konnte.
»Also, Alice, sag du uns die Antwort.« Alle Blicke richteten sich auf Alice, die ohne nachzudenken gehorchte. Im nächsten Moment wurde ihr
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