Weites Land der Träume
heraus. Ihre riesigen blauen Augen leuchteten aus dem herzförmigen Gesicht. Ohne nachzudenken gab sie dem Druck seiner Finger nach, die ihren Kopf nach oben bogen. Ein Schauder durchfuhr sie, als seine Lippen leicht die ihren streiften, und ihr eigener Puls dröhnte ihr in den Ohren.
»Ich komme gern nach Hause, wenn du hier bist, kleine Alice«, flüsterte Billy. Er wich zurück und strich ihr mit dem Finger über die Wange. »Und du hast eine wunderbar weiche Haut, kleine Cousine.« Unzusammenhängende Worte strömten Alice über die Lippen, die noch von der hauchzarten Berührung seines Mundes brannten. Eher verlegen wegen ihrer eigenen Reaktion als wegen seines ungewöhnlichen Verhaltens, machte sie einen Schritt rückwärts. Plötzlich hallte Paddys Stimme durch die Stille.
»Kommst du jetzt mit in den Pub oder nicht?«, rief er und kam durch das Dämmerlicht auf sie zu.
»Ich bringe nur noch Alice nach Hause«, erwiderte Billy, um einiges ruhiger, als sie beide sich fühlten. »Los, Kleine, sonst macht Mum sich noch Sorgen.«
Ruckartig wurde Alice in die Wirklichkeit zurückgeholt, und sie fühlte sich wieder sicher. Dennoch hatte sie in Billys Augen etwas bemerkt und zum ersten Mal die erwachende Begierde bei sich selbst empfunden. Als sie in jener Nacht im Bett lag, fuhr sie sich mit dem Finger über die Lippen und erinnerte sich an die Berührung seines Mundes und an die verwirrenden Gefühle, die diese Liebkosung in ihr geweckt hatte. Dann versuchte sie, das Geschehene vernünftig zu durchdenken. Es war nichts weiter gewesen als ein Kuss unter Cousins. Wenn sie sich nicht zufällig bewegt hätte, wäre der Kuss sicher auf ihrer Wange gelandet. Dennoch hatte der Blick, den sie bei ihm wahrgenommen hatte, ihre jahrelange kindliche Vertrautheit für immer zerstört. Als Billy und Paddy nach Wangianna zurückkehrten, war Alice gleichzeitig traurig und erleichtert.
Das Pferderennen mit anschließendem Picknick, das im Juli in Come-by-Chance stattfand, war der gesellschaftliche Höhepunkt des Jahres, und die Landbevölkerung reiste häufig Hunderte von Kilometern weit, um dabei zu sein. Da die Menschen jahrein, jahraus hart auf ihren Farmen arbeiteten, bedeuteten der kurze Urlaub und die unterhaltsamen Rennen eine willkommene Ablenkung. Die Vorbereitungen begannen schon viele Wochen im Voraus, und Jahr für Jahr gab es mehr Zuschauer. Dieses Jahr wurde ein Besucherrekord erwartet. Ray schloss stets Wetten ab und hatte sich fest vorgenommen, wenigstens eine davon zu gewinnen. Deshalb spitzte Bea während der Vorbereitungssitzungen in den Wochen davor die Ohren, um aus dem Klatsch die beliebtesten Pferde und Jockeys herauszufiltern und diese Informationen an Ray weiterzugeben. Schließlich war der große Tag gekommen. Niemand beschwerte sich über die holperige Fahrt auf staubigen, von Schlaglöchern durchsetzten Straßen, nicht einmal, als ein Reifen platzte. Und man fand sich auch damit ab, dass die Fahrt wegen Sherrys Transportanhänger hinten am Wagen eben ein bisschen länger dauerte. Als sie endlich staubig und durstig eintrafen, sprang Alice ebenso aufgeregt wie die Jungen aus dem Auto.
An der Rennbahn mitten im Busch herrschte geschäftiges Treiben. Männer von den benachbarten Farmen markierten die Strecke und bauten die Überdachungen für die Mitgliedertribüne und den Bierausschank, während andere provisorische, durch gekalkte Rupfenbahnen abgetrennte Toiletten errichteten und Zelte aufstellten. Alle freuten sich über das Wiedersehen, und einige hatten bereits fröhlich dem Alkohol zugesprochen. Nachdem Alice Sherry eine Fußfessel angelegt hatte, half sie Tante Bea, die Transportkisten an der Stelle am Flussufer auszuladen, wo sie ihr Lager aufschlagen wollten. Unterdessen schnitten die Jungen frische belaubte Zweige und dünne Gräser, um damit das Überdach vom vergangenen Jahr zu decken. Das grob gezimmerte Gerüst bestand aus dicken Ästen und schien noch so stabil zu sein wie damals, als sie es gebaut hatten. Es spendete ihnen den dringend benötigten Schatten. Während Ray losging, um den Männern zu helfen, richtete Bea das Lager ein. Alice und Buddy packten die Kisten aus, und die Zwillinge stellten Betten auf. Dan nahm den Kessel und holte Wasser für die erste Tasse Tee vor Ort. Zu guter Letzt hängte Alice Beas neues Kleid auf, das eigens für den am Ende der Woche stattfindenden Ball angefertigt worden war. Als im Laufe des Nachmittags Billy und Paddy eintrafen, fielen sich alle in
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