Weites wildes Land
für ziemlich steif hielten, da Charlotte sich alle erdenkliche Mühe gab, sie ins Gespräch mit einzubeziehen. Ihre Erziehung hatte sie nicht auf den rauhen Umgangston vorbereitet. Geistliche waren Geißeln Gottes, Politiker Betrüger, Schafzüchter Witzfiguren, die Herren vom Britisch-Australischen Telegraphenamt aufgeblasene Narren und die königliche Familie ein lächerlicher Haufen. Nur Königin Viktoria wurde verschont – die Familie liebte sie und stieß oft auf ihre Gesundheit an. Sibell vermutete, daß sie dafür schon dankbar sein mußte. Belustigt stellte sie fest, daß sie sich, obwohl sie die Gilberts verabscheut hatte, besser in deren von gesellschaftlicher Konvention geprägte Lebensweise hatte einfügen können. Hier in dieser staubigen Wildnis fühlte sie sich wie in einer anderen Welt, obwohl sich Charlotte alle erdenkliche Mühe gab, ein gemütliches Zuhause für die Familie zu schaffen. Auch der ungezwungene Umgang, den die Menschen auf dieser Farm miteinander pflegten, verwirrte sie: der leicht zu erzürnende chinesische Koch, die aufgeregt herumhuschenden schwarzen Hausmädchen und die lebhafte Familie. Zack und Cliff machten genug Lärm für zehn, wenn sie zu Hause waren. Sie lachten, schrien, stritten, trampelten durchs Haus oder ließen sich auf der Veranda nieder; die langen Beine legten sie dann einfach aufs Geländer. Und noch viel schlimmer, sie besaßen zu Sibells großer Verlegenheit offenbar keine Morgenmäntel! Wenn sie ins Badezimmer gingen, waren sie bis auf ein Handtuch um die Hüften splitternackt. Sibell gewann eine gewisse Übung darin, ihnen auf dem Flur aus dem Weg zu gehen, damit sie nicht sahen, wie sie errötete. Und so vergingen die Wochen. Ständig kam es auf der Farm oder in deren Umkreis zu unvorhergesehenen Zwischenfällen, doch Sibell hatte mit all diesen Schwierigkeiten nichts zu schaffen. Sie ging ihrer Arbeit nach oder vertrieb sich die Zeit mit Spaziergängen, wenn Charlotte ihr Mittagsschläfchen hielt. Was ihr allerdings Sorgen bereitete, waren die Alpträume, die sie immer noch plagten. Ständig hielt sie sich vor, daß sie keinen Grund hatte, sich zu fürchten, doch jeden Morgen erwachte sie mit einem entsetzlichen Gefühl der Angst. »Geht es Ihnen gut, Sibell?« fragte Charlotte sie eines Tages. »Sie sehen so blaß und müde aus.« »Mir fehlt nichts. Vielen Dank.« »Das freut mich. Aber wenn Ihnen etwas Sorgen macht, Sibell, dann raus mit der Sprache. Grübeln ist ungesund.« »Nein, es ist nichts, wirklich nicht.« Wie konnte sie diesen lebenstüchtigen Menschen erzählen, daß sie wie ein kleines Kind unter Alpträumen litt? »Wenn Sie sich etwa wegen der Arbeit Sorgen machen, ist das völlig überflüssig«, sagte Charlotte. »Sie sind mir eine große Hilfe, und ich freue mich über Ihre Gesellschaft. Betrachten Sie Black Wattle als Ihr Zuhause, solange wir Sie bei uns halten können.« »Halten können?« wiederholte Sibell. »Wo sollte ich sonst hingehen?« Charlotte lachte. »Mein liebes Mädchen, wenn es sich erst einmal herumspricht, daß eine junge Dame auf Black Wattle wohnt, werden die Verehrer einander die Klinke in die Hand geben.« »Oh, das glaube ich nicht…« »Die werden nicht lange auf sich warten lassen. Denken Sie an meine Worte. Es würde mich nicht überraschen, wenn Sie, falls Sie im Norden bleiben, eines Tages einen unserer Rinderbarone heiraten.« Nachts in ihrem Zimmer versuchte Sibell, zu lesen und sich wach zu halten, während die ganze Welt zum Stillstand gekommen zu sein schien. Charlottes Bemerkungen hatten nichts zu bedeuten, waren nur als freundliche Geste gemeint gewesen. Sie glaubte nicht, daß Sibell auf eine Farm gehörte; die einzige Aufgabe, der sie hier gewachsen war, war die einer Gesellschafterin für die Dame des Hauses. Auf der anderen Seite des Wirtschaftsgeländes lag eine lang gestreckte Baracke und eine Küche. Dort wohnten all die Reiter, die im Vorbeigehen immer den Hut zogen, doch was sie draußen in der Wildnis genau zu tun hatten, war für Sibell ein Geheimnis, und das würde es wohl auch bleiben.
* * *
Es kamen Besucher auf die Farm; immer Männer. Für einige Wochen waren Zureiter zu Gast, die für große Aufregung sorgten. Man fing wiehernde, bockende Wildpferde im Busch, und alle Arbeit auf der Farm ruhte, weil jeder das Geschehen miterleben wollte. Sibell hatte nicht gewußt, wie viele Aborigines auf der Farm wohnten, doch auch sie erschienen zu diesem Anlaß und wollten ebenso
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