Weites wildes Land
Trott gefallen war, hatte Sibell sich von ihrem gleichmäßigen, sicheren Schritt einlullen lassen. Und nun war da dieser Fluß. In all der Aufregung hatte ihr niemand gesagt, wie weit sie reiten sollte, und wahrscheinlich gingen Zack und Cliff nun davon aus, daß Sibell irgendwo am Weg auf sie warten würde. Sicherlich waren sie jetzt furchtbar böse auf sie. Sie hätte einen kühlen Kopf bewahren müssen, anstatt davonzupreschen. Inzwischen war der Streit mit den beiden Schwarzen bestimmt schon ausgestanden, und es kam Sibell übertrieben vor, daß sie sie fortgeschickt hatten. Auf ihrem Ritt hatte sie jeden Augenblick damit gerechnet, daß sich teuflische Schwarze aus dem Busch auf sie stürzen würden, um sie zu packen und vom Pferd zu zerren. Aber jetzt war sie sich gar nicht mehr sicher, was in den letzten Minuten tatsächlich geschehen war. Sie konnte sich nur noch daran erinnern, daß die beiden Aborigines Gewehre gefordert hatten. Eigentlich waren es jämmerliche Gestalten gewesen, denn was konnten sie schon gegen zwei schwer bewaffnete Männer wie Zack und Cliff ausrichten? Die beiden waren mit riesigen Bowiemessern ausgerüstet und konnten ausgezeichnet mit dem Gewehr umgehen. Nein. Im Augenblick schien es ihr, als sei sie selbst die einzige, die bis zum Hals in Schwierigkeiten steckte. Sie wußte, daß sie eigentlich hätte zurückreiten sollen, aber wohin? Zack hatte ihr geraten, immer mit dem Rücken zur Sonne zu reiten. Hatte sie das getan? Vor lauter Angst stieg ihr ein Lachen in der Kehle auf. Das hätte er besser dem Pferd erzählen sollen. Endlich beschloß sie, daß es wohl das beste war, irgendwie nach Hause zu reiten und zu hoffen, daß die beiden nicht auf sie warteten. Sie konnte sich ihre wütenden Gesichter gut vorstellen, denn wahrscheinlich waren sie stundenlang vergebens im Busch herumgesessen, während sie, Sibell, bereits wohlbehalten in Black Wattle saß. Das hieß, falls sie den Heimweg überhaupt fand! Maudie wäre so etwas selbstverständlich nie passiert. Sie wäre geblieben und hätte sich nie von Zack und Cliff fortschicken lassen. Und sie hätte, ohne mit der Wimper zu zucken, einen dieser Schwarzen erschossen. Sibell erinnerte sich, wie sie einmal mit Maudie ausgeritten war. Maudie hatte sie aufgefordert, mitzukommen, weil es etwas zu tun gab. Sie waren zum Viehhof geritten und neben einer hohen Konstruktion aus Holz abgestiegen. Mit der Hilfe zweier schwarzer Viehhirten hatte Maudie einen Stier eingefangen und ihn gefesselt. Vor Sibells Augen, die sich gefragt hatte, was da vor sich ging, hatte Maudie in aller Seelenruhe dem Stier die Kehle durchgeschnitten, daß das Blut in alle Richtungen spritzte. Schreiend hatte Sibell die Flucht ergriffen. Und Maudie hatte sie später deshalb aufgezogen: »Es macht Ihnen doch nichts aus, Rindfleisch zu essen. Haben Sie etwa geglaubt, daß das Vieh die Steaks freiwillig herausrückt?« »Du hättest sie warnen sollen«, hatte Charlotte getadelt, aber Maudie zeigte keine Spur von Reue. »Sie muß lernen, wie es auf einer Farm zugeht.« Und während Sibell dasaß und den Fluß betrachtete, fragte sie sich, was Maudie wohl in ihrer Lage getan hätte. Die Sonne ging allmählich unter, aber immer noch wärmte sie Sibells Rücken. Auch wenn sie sich verlaufen hatte, mußte sie sich nur an die Anweisungen halten und weiter geradeaus reiten. Ja, und wahrscheinlich kommst du irgendwo in Westaustralien heraus, sagte sie sich wütend. Außerdem war da noch der Fluß, und der sah ziemlich breit und tief aus. »Nun gut«, sagte sie sich. »Entweder untergehen oder schwimmen.« Mit diesen Worten lenkte sie das Pferd hinunter zum Ufer. »Es heißt, Pferde können schwimmen«, hielt sie Merry vor, um sich Mut zu machen. »Hoffentlich trifft das auch auf dich zu.« Vorsichtig ließ sie das Pferd vom flachen Ufer ins tiefere Wasser gehen. Schon bereute sie ihre Entscheidung – die Strömung war viel stärker als erwartet –, aber Merry warf sich in die Fluten. Als das Pferd zu schwimmen begann und durch das wunderbar kühle Wasser pflügte, klammerte sie sich wie berauscht von dieser neuen Erfahrung an den Rücken des Tieres. Allerdings meldete sich wieder die Angst, als sie die Mitte des Flusses erreichten; nun war es zu spät, um umzukehren. Aber Merry schwamm schnaubend und mit hocherhobenem Kopf weiter, und Sibell, die zu ihrer Verwunderung feststellte, daß sie immer noch keinen Boden unter den Füßen hatte, redete dem tapferen Pferd gut zu und
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