Weites wildes Land
den Grund, und sie stellte fest, daß das Wasser gar nicht so tief war. Gegen die Strömung watete sie durchs taillentiefe Wasser an Land, wo Sam Lim sich in die Fluten warf und sie das schlammige Ufer hinaufzog. »Wo ist Maudie?« fragte sie ihn ängstlich. »Noch im Wagen«, antwortete er. »Ein Rad ist abgefallen.« Und er lief los, um zu helfen. Immer noch zitternd vor Schreck und von Kopf bis Fuß durchweicht, holte Sibell Luft und versuchte sich zu beruhigen. Sie fühlte sich entsetzlich und hatte rasende Kopfschmerzen. Als sie die Arme verschränkte, spürte sie etwas unter ihrem Hemd. Sie schrie auf. Ein Blutegel! Und nicht nur einer; unzählige bedeckten ihren Körper und ihre Beine. Als Sibell anfing, an ihren Kleidern zu zerren, kam Netta angelaufen. »Was ist, Missy? Sie verletzt?« »Blutegel!« schrie Sibell. »Ach, die. Die tun nicht weh. Halten Sie still.« Sie wurde von Schluchzen geschüttelt, während Netta nach den widerlichen glitschigen Tieren suchte, die an ihrem Leib klebten. Dann hörte sie eine bekannte Stimme. »Was ist denn hier los?« »Blutegel!« schrie sie wieder und dachte gar nicht darüber nach, wem diese Stimme wohl gehören mochte. »Nehmt sie weg!« Geschickt löste Netta die Egel ab. »Alle weg«, verkündete sie schließlich. Er bückte sich und hob sie hoch, als ob sie leicht wie eine Feder gewesen wäre. Dann trug er sie zur Kutsche. An seiner Stimme konnte sie hören, daß er lächelte. »Ihr Mädchen sitzt ja ganz schön in der Patsche.« »Ach, Sie sind's«, sagte sie mit schwacher Stimme. Sie befühlte ihre Stirn, die in der Hitze zu glühen schien. »Mir geht es gar nicht gut, Zack.«
Neuntes Kapitel
Vor dem Fenster spielten Kinder, und ihr Geschrei störte sie. Sibell drehte sich auf die Seite. Dabei stöhnte sie, denn ihr schmerzte der Kopf, er wehrte sich gegen jede Bewegung. Niemand war zu sehen – nur der stürmische graue Himmel. Da ihr Bett nahe am Fenster stand, konnte sie mit der ausgestreckten Hand hinauflangen und die Scheiben berühren, die erstaunlich warm waren. Dabei erinnerte sie sich daran, wie unerträglich heiß ihr gewesen war. Sibell kam es so vor, als sei sie erst kürzlich durch einen glutheißen Backofen gewandert. Doch jetzt war es kühl. Ja, das Zimmer war kühl und weiß. Weiße Wände, weiße Bettücher, weiße Vorhänge. Nur das schwarz gestrichene metallene Fußende ihres Bettes hob sich farblich von ihrer Umgebung ab. Sie war sehr krank gewesen, fiel ihr jetzt wieder ein, und bruchstückhafte Szenen kamen ihr ins Gedächtnis: Ihr Körper war schweißgebadet gewesen. Menschen hatten sich an ihrem Bett unterhalten, gräßliche Alpträume und Schmerzen hatten sie gepeinigt – und dann noch diese schreckliche Hitze. Es war zu qualvoll, länger darüber nachzudenken, und so ließ sie sich wieder in die Kissen sinken und blinzelte froh, daß ihr diese kleine Bewegung nicht mehr wie tausend Messerstiche durch den Kopf fuhr. Da stellte sie fest, daß Zack sie beobachtete. »Bin ich im Krankenhaus?« fragte Sibell. »Nein«, antwortete er so beiläufig, als ob sie sich die ganze Zeit schon unterhalten hätten. Vielleicht entsprach das sogar den Tatsachen… sie wußte es nicht mehr. »Maudie liegt im Krankenhaus. Sie aber haben wir in unser Strandhaus gebracht.« »Bin ich in Palmerston?« »Ja. Der Arzt sagt, Sie sind über den Berg, und jetzt müssen wir dafür sorgen, daß Sie etwas Anständiges zu essen bekommen. Sie sind ein bißchen mager geworden.« »Warum?« fragte sie, weil ihr nichts anderes einfiel. »Bei Erkältung sollst du essen und bei Fieber hungern, heißt es so schön. Und Sie hatten hohes Fieber, Malaria.« »Oh!« Sie dachte darüber nach. Und dann schlief sie wieder ein.
* * *
Das Haus thronte auf einer flachen Landzunge und bot einen atemberaubenden Ausblick auf die Bucht. Sibell liebte es, zuzusehen, wie die Regenwolken über dem Meer aufzogen. Zwar konnten die hohe Luftfeuchtigkeit und der Regen recht unangenehm sein, doch sie taten der Ferienstimmung keinen Abbruch. Besucher kamen vorbei, meist herzliche und fröhliche Leute, und während Zack sich mit ihnen im Haus unterhielt, spielten die Kinder im Garten. Mit nur zwei Schlafzimmern und einem Anbau war das Haus recht klein, doch immerhin gab es das große Zimmer im Erdgeschoß, das als Küche, Eß- und Wohnzimmer diente. Bei Regen versammelten sie sich wie eine große Familie um den langen Eßtisch, und wenn die Regengüsse einmal
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