Weites wildes Land
ansehen, wenn jemand untätig herumsaß. Allerdings saß Sibell nicht »untätig herum«. Wie so oft überlegte sie, wie sie aus diesem Haus entkommen konnte. Durch die hohen, offenen Fenster hörte sie das Stimmengewirr aus dem Zimmer, das sich mit dem hohen Zirpen der Zikaden im Garten mischte. Offenbar wimmelte es hier von diesen Insekten; es mußten Tausende sein, die man aber nie zu Gesicht bekam, da sich die klugen Tierchen gut versteckt hielten. Ein einsamer Vogel ließ seinen süßen Gesang erschallen. Die Töne klangen verhalten, fast nachdenklich, als würde sich der Vogel in aller Seelenruhe überlegen, was er als nächstes tun sollte. »Mir geht es genauso«, sagte Sibell, und der Vogel blickte sie forschend an. Aus einem unerklärlichen Grund hörten die Zikaden mit einem Schlag auf zu zirpen. Sibell hörte Margots Stimme: »Entschuldigen Sie mich für einen Augenblick, meine Damen.« O nein, dachte Sibell. Jetzt kommt sie bestimmt heraus. Sie stellte sich schon darauf ein, jeden Augenblick gerufen zu werden, aber offenbar war Margot in die entgegengesetzte Richtung gegangen. »Die arme Margot«, hörte Sibell da Mrs. Enderbys klagende Stimme. »Sie hat es wirklich nicht leicht mit dem Mädchen.« Ohne wegen ihres Lauschens auch nur die Spur eines schlechten Gewissens zu haben, spitzte Sibell die Ohren. »Welches Mädchen? Miss Delahunty?« »Ja. Eine richtige freche Göre ist das, und das nach allem, was Margot für sie getan hat.« »O du meine Güte. Sie macht den Gilberts wirklich nichts als Schwierigkeiten. Percy hat meinen Mann aufgesucht«, erwiderte Mrs. Judd. »Er wollte, daß der Vikar ihm einige anständige junge Männer aus der Umgebung nennt, die sich mit Heiratsgedanken tragen; Sie verstehen doch…« Sibell stieg die Schamesröte in die Wangen. »…aber es ist eine ziemlich peinliche Angelegenheit. Mein Ted wußte wirklich nicht, wen er vorschlagen soll. Percy hat sogar einige junge Burschen aus dem Freundeskreis des Gouverneurs erwähnt, aber das ist doch wohl ausgeschlossen.« »Selbstverständlich. Aber sie müssen bald jemanden finden. Schließlich können sie sie nicht für den Rest ihrer Tage durchfüttern…« Sibells Verlegenheit verwandelte sich in Wut, und sie mußte an sich halten, um nicht dazwischenzufahren. Mrs. Enderby fuhr fort: »Ich meine, immerhin muß Margot sie ernähren und ihr etwas zum Anziehen kaufen. Das kostet ein Vermögen. Ich habe gehört, sie kauft alles, was ihr gerade gefällt.« »Verdammte Lügnerinnen«, flüsterte Sibell. »Aber wie kann sie das?« Wenigstens Mrs. Judd hatte da ihre Zweifel. »Margot muß doch nur aufhören, ihr Geld zu geben.« »Nicht unbedingt«, meinte Mrs. Enderby schnippisch. »Margot unterhält Konten. Also braucht das Mädchen nur zu Garbutts zu gehen und ihre Bestellung aufzugeben. Das würde ich ihr durchaus zutrauen. Margot sagt, sie sei frech wie Rotz.« Doch dann wurde das Gespräch durch Margots Rückkehr unterbrochen. Kochend vor Wut saß Sibell da. Was konnte sie tun? Wehmütig dachte sie an ihre Eltern zurück, und die Tränen traten ihr in die Augen. Aber sie wischte sie ab; sie durfte jetzt nicht weinen, sie mußte tapfer sein. Der Vogel erhob sich in die Lüfte und flog rasch und zielsicher auf einen Baum zu, der in einiger Entfernung stand. Sibell nickte. Ja, sie mußte jetzt etwas unternehmen, und zwar etwas, daß sie wenigstens Grund hatten, sich das Maul zu zerreißen. Als Sibell in ihr Schlafzimmer eilte, stolperte sie an der Hintertür, weil ihr wirre Pläne und wütende Drohungen im Kopf herumwirbelten. Sie würde es ihnen zeigen! Sie würde… was? Am liebsten hätte sie ihnen das Haus über dem Kopf angezündet. Oder sollte sie Margots Kleider aus dem Fenster werfen? Heftig fuhr sich Sibell mit der Bürste durchs Haar und entschloß sich dann zu einem einfachen Akt des Ungehorsams: sie würde Margots Pferd nehmen und in die Stadt reiten. Da sie nur einen verwaschenen, schwarzen Sonnenhut besaß, warf sie ihn beiseite und verließ barhäuptig das Haus. Das war schon ein erster Schritt, um Margot zu verärgern. Allerdings meldete der Stallbursche, der dem Pferd den Damensattel auflegte, Zweifel an. »Weiß Mrs. Gilbert, daß Sie Bonny nehmen?« »Selbstverständlich. Ich habe es eilig, also trödeln Sie nicht herum, Leonard.« Und dann machte sie sich auf den Weg. Schon früher war sie mit Margot und Percy im Zweispänner ausgefahren. Nun war sie von ihnen befreit und sehr mit sich zufrieden, als sie die
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