Weizenwampe
»Durchfluss«. Viele Hundert Jahre später fügte ein weiterer Verfechter der diagnostischen Kostprobe, Dr. Thomas Willis, die Bezeichnung »mellitus«, also »honigsüß«, hinzu. Diabetes mellitus heißt wörtlich übersetzt »honigsüßer Durchfluss«. Träumen Sie immer noch von einem Land, in dem Milch und Honig fließen?
Dass seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts diabetischen Kindern lebensrettendes Insulin verabreicht werden kann, war aus therapeutischer Sicht ein Meilenstein. Bei zuckerkranken Kindern sind die Betazellen in der Bauchspeicheldrüse aufgrund einer Schädigung nicht mehr in der Lage, Insulin zu produzieren. Unbehandelt erreicht der Blutzucker gefährliche Höhen und wirkt dann wie ein Diuretikum, weshalb große Mengen Wasser über den Urin ausgeschieden werden. Der Stoffwechsel leidet darunter, dass durch den Insulinmangel kein Zucker in die Zellen gelangt. Ohne eine Verabreichung von Insulin kommt es schließlich zur diabetischen Ketoazidose, der Patient fällt ins Koma und stirbt. Für die Entdeckung des Insulins erhielt der kanadische Arzt Sir Frederick Banting 1923 den Nobelpreis und ebnete den Weg in ein Zeitalter, in dem alle Diabetiker, Kinder und Erwachsene, Insulin erhielten.
Für Kinder war Insulin in der Tat lebensrettend, doch bei den Erwachsenen lenkte es den Blick der Wissenschaft viele Jahre in die falsche Richtung. Anfangs unterschied man kaum zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes. Erst in den 1950er Jahren stellten die Forscher überrascht fest, dass erwachsene Typ-2-Diabetiker erst in fortgeschrittenen Krankheitsstadien unter Insulinmangel leiden. Die meisten erwachsenen Typ-2-Diabetiker haben ganz im Gegenteil hohe Insulinspiegel, sogar mehrfach so hoch wie normal. In den 1980er Jahren entdeckte man dann das Konzept der Insulinresistenz, welches erklärt, warum bei erwachsenen Diabetikern ungewöhnlich hohe Insulinspiegel vorliegen. 6
Leider reagierte die Fachwelt nicht auf die Entdeckung der Insulinresistenz, denn genau zu dieser Zeit leitete die Hetzjagd auf Fette, insbesondere gesättigte Fette, die Hochsaison der Kohlenhydrate ein. Insbesondere glaubte man daran, dass »gesundes Vollkorn« der Gesundheit förderlich sei, die angeblich von übermäßigem Fettkonsum bedroht wäre. So begann ein 30 Jahre währendes Experiment rund um die Frage, was passiert, wenn man Menschen Fett einsparen und die gesparten Fettkalorien durch »gesundes Vollkorn« (wie Weizen) ersetzen lässt.
Das Ergebnis sind Übergewicht und Fettleibigkeit, quellende Bäuche, Prädiabetes und Diabetes in nie zuvor gesehenem Ausmaß bei Männern wie Frauen, Arm und Reich, Vegetariern und Fleischessern, über alle Volksgruppen und Altersstufen hinweg, und alle haben »honigsüßen Durchfluss«.
Vollkorn in aller Munde
Über alle Zeitalter hinweg war Diabetes eine Wohlstandskrankheit. Diabetiker mussten nicht auf die Jagd gehen, das Land bestellen oder selbst kochen. Denken Sie an Heinrich VIII., gewichtig und gichtgeplagt, der sich Nacht für Nacht beim Bankett mit Marzipan, Brot, Süßspeisen und Bier den Bauch vollschlug. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten allmählich alle sozialen Schichten Zugriff auf Zucker, worauf auch die Verbreitung der Zuckerkrankheit zunahm. 7
Mit dem Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert stiegen die Fallzahlen also an, stabilisierten sich dann jedoch für viele Jahre. Bis Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts blieb der Anteil der erwachsenen Diabetiker in Amerika relativ konstant.
Dann jedoch setzte eine abrupte Wende ein.
Prozentualer Anteil erwachsener Amerikaner mit Diabetes, 1980–2009. Ende der 1980er Jahre setzt ein scharfer Aufwärtstrend ein, der 2009 und 2010 (nicht abgebildet) einen dramatischen Höhepunkt erreicht.
Quelle: Centers for Disease Control and Prevention
Heute ist Diabetes so verbreitet wie SMS-Nachrichten. Weltweit hat sich die Zahl der Zuckerkranken zwischen 1980 und 2008 von 153 Millionen auf 347 Millionen mehr als verdoppelt und betrifft allein in Deutschland rund sieben Millionen Menschen – bei einer Dunkelziffer von 50 Prozent. 8, 9 Wer nicht selbst an Diabetes leidet, kennt in der Regel Freunde, Kollegen oder Nachbarn mit dieser Erkrankung, und da ein Drittel der über 70-Jährigen betroffen ist, leiden (oder litten) vielfach auch die eigenen Eltern darunter.
Dabei ist Diabetes nur die Spitze des Eisbergs. Für jeden Diabetiker stehen drei bis vier Menschen mit Prädiabetes, der sich durch einen leicht
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