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Welch langen Weg die Toten gehen

Welch langen Weg die Toten gehen

Titel: Welch langen Weg die Toten gehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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ich eines Morgens zur Arbeit und stellte fest, dass an ihrer Bürotür mein Name stand.
    Ich war so perplex, dass ich über eine Stunde lang nicht an Alba dachte.
    Und als ich es dann tat, merkte ich zum ersten Mal seit ihrem Tod, dass ich mir vollkommen darüber bewusst war, wer ich war, wo ich war und was ich tat.
    Männer gab es keine in meinem Leben. Verständlich, da ich jeden automatisch hasste, der auch nur ein Auge auf mich warf. Aber es gab auch nicht viele. Unter Tonys wachsamem Auge hätte ich wahrscheinlich nackt und mit einem Sack voller Gold einmal um den Planeten marschieren können, ohne fürchten zu müssen, dass ich belästigt würde. Und was alles andere betraf – nun, für mich gab es eigentlich nichts anderes.
    Dann kamen wir zu den Maciver-Übernahmeverhandlungen nach England, und ich lernte Pal kennen.
    Von der ersten Begegnung an wusste ich, dass er an mir interessiert war, und es war ihm scheißegal, ob Tony dem zustimmte oder nicht.
    Und ich, na ja, anfangs amüsierte es mich. Er war zwanzig Jahre älter als ich, ein Witwer, drei Kinder, ein Brite – ich muss nicht wiederholen, was er alles zu hören bekommen hatte. Und selbst wenn ich mich Hals über Kopf in ihn verliebt hätte, wäre es wahrscheinlich sofort im Keim erstickt worden, als ich Pal junior und Cressida sah.
    Ich weiß nicht, inwieweit ihr Vater sie auf mich vorbereitet hatte, aber bei ihnen schrillten sämtliche Alarmglocken. Ich war ihre Feindin, und ihre Mission war es, mich zu vernichten. Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Pal junior war fünfzehn, Cressida zwölf, nicht unbedingt das Alter, in dem man sich sehr vernünftig benimmt. Und außerdem hatten sie ein dreiviertel Jahr zuvor ihre Mutter verloren.
    Ich hätte mich auf dieses Spielchen nicht eingelassen und sofort wieder das Weite gesucht, wäre Helen nicht gewesen.
    Sie hatte große blaue Augen und blonde Locken und war soeben vier geworden, genau das Alter, in dem auch Alba gewesen wäre. Wenn in diesem Alter ein Kind seine Mutter verliert, verliert es damit die unbedingte, unmittelbare Liebe, es bleibt eine Lücke, die auch durch noch so viel Mitgefühl und Zuwendung nicht ausgefüllt werden kann. Mitgefühl und Zuwendung, das empfand ich für die älteren Kinder, aber nicht für Helen. Ich sah sie, und in diesem Moment erwachte all die Liebe in mir, die ich für Alba empfand. Sie musste es gespürt haben, denn vom ersten Moment an herrschte eine große Vertrautheit zwischen uns.
    Und Pal, der dies bei unserer ersten Begegnung mitbekam, musste gewusst haben, dass er in mir eine Ehefrau gefunden hatte.
    Von Tony hatte ich, wenn schon nicht Ablehnung, zumindest Vorbehalte erwartet. Aber er überraschte mich aufs Neue. Er ermutigte mich nicht nur, er zeigte sich geradezu überschwänglich. »Das Kind braucht eine Mutter«, sagte er, was ich im ersten Moment so auslegte, als meinte er, dass ich ein Kind bräuchte. Aber wenn ich seither darüber nachgedacht habe, fällt mir nichts ein, was er jemals gesagt hätte und nicht so gemeint hatte.
    Wie auch immer, mit der Heirat ging es voran, mit der Übernahme ging es voran, und alle waren glücklich.
    Bis auf Pal junior und Cressida.
    Sie hatten sich in den Kopf gesetzt, mir das Leben zur Hölle zu machen. Nicht zu offen und niemals im Beisein ihres Vaters. Aber sie arbeiteten daran, o ja, sie arbeiteten hart daran. Und es hätte wohl auch geklappt, wäre nicht Helen gewesen. Sie war mein Gegengift. Sie bereitete mir den Himmel auf Erden, dem ihre müden Versuche, mir das Leben zur Hölle zu machen, nichts anhaben konnten. Natürlich versuchten sie über Helen an mich ranzukommen, aber ich machte ihnen meine Grenzen unmissverständlich klar. Bis hierher, sonst explodiere ich. Sie zogen sich zurück, aber der Guerillakrieg ging weiter. Gegen einen Guerillakrieg kann man sich nicht verteidigen, man kann nur hart bleiben und darauf hoffen, dass Ermüdungserscheinungen die Gegenseite an den Konferenztisch treiben. Ich versuchte mit Pal senior darüber zu reden, aber das war schwierig. Er hatte die Familie, die er sich wünschte, und wollte die Risse in der Fassade nicht sehen. Ich versuchte über seine Schwester Lavinia an ihn ranzukommen, aber sie war völlig daneben, geistig wie körperlich. Einmal besuchte ich sie, das war, als wäre man plötzlich in Hitchcocks
Vögel
gelandet.
    Mir blieb also nichts anderes übrig, als zu warten. Ich dachte, es würde besser werden, wenn Cressida erst mal auf dem Internat war. Es war

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