Welch langen Weg die Toten gehen
zum Schluss so verwirrt, dass er sich seiner Motive selbst nicht mehr bewusst war.«
»Wirklich? Vielleicht haben Sie Recht. Aber ich dachte mir, vielleicht hat er Ihnen gegenüber etwas in der Richtung verlauten lassen, als Sie sich an jenem Abend im Moscow House mit ihm getroffen haben.«
Sie war außergewöhnlich. Kein zuckendes Augenlid, keine sichtbare Regung, die ihm angezeigt hätte, dass er einen Treffer gelandet hatte. Er spürte mehr Reaktionen von seinen beiden Kollegen, die er gar nicht anblickte, von Dalziel, der die stille Bedrohung einer noch nicht hochgegangenen Mine an einem Badestrand bei Ebbe ausstrahlte, und von Novello, die – sie war irgendwann mit der Zuckerdose zurückgekehrt – ebenso still, aber völlig entgeistert und mit offenem Mund, vor dem reglos ihr Scone schwebte, wie das Standbild einer TV -Werbung dasaß.
»Ich habe ihn an jenem Abend im Moscow House nicht gesehen«, sagte Kay Kafka ernst.
»Aber Sie waren im Moscow House«, sagte Pascoe. »Ich meine, bevor Sie dort mit Ihrer Stieftochter erneut aufgetaucht sind.«
»Ja, ich war dort«, erwiderte sie, als wäre sie überrascht, dass ihr erster Besuch jemals in Frage gestellt werden würde. »Aber ich habe Pal nicht gesehen.«
Mit welcher Unbefangenheit sie es zugab, überraschte ihn für eine Sekunde, aber nicht länger. Sie musste argwöhnen, dass eindeutige Beweise dafür vorlagen, warum also leugnen?
Vielleicht war sie sogar vorgewarnt worden.
Er schlug sich diesen Gedanken aus dem Kopf. »Sie haben diesen Besuch nie erwähnt.«
»Hätte mich jemand gefragt, wo ich an jenem Abend überall gewesen war, hätte ich natürlich davon erzählt. Aber wenn
Sie
kein Interesse daran hatten, warum sollte dann
ich
eines gehabt haben?«
»Das klingt mir eine Spur zu unaufrichtig, meinen Sie nicht auch, Mrs. Kafka?«, sagte er mit einem dünnen Lächeln. »Aber lassen wir diese Frage mal beiseite und wenden uns den wichtigeren zu. Warum sind Sie zum Moscow House gefahren, und was ist geschehen, als Sie dort waren?«
Sie entspannte sich leicht, als hätte sie eine gefährliche Klippe umschifft und befände sich nun wieder in sicheren Gewässern. »Ich war dort, weil Pal mich eingeladen hatte. Ich kam an. Die Tür stand offen. Ich ging hinein. Fand niemanden. Dann ging ich wieder.«
»Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie es etwas genauer beschreiben könnten, Mrs. Kafka.«
»An weitere Einzelheiten kann ich mich im Moment leider nicht erinnern, Mr. Pascoe. Aber seien Sie versichert, wenn mir etwas einfällt, werde ich es Ihnen unverzüglich mitteilen.«
Sie blieb gelassen und höflich. Bewundernswert, dass ihr Blick kein einziges Mal zu Dalziel schweifte, dem vermutlich schon der kleinste Anlass genügt hätte, um dazwischenzupoltern.
»Nichts, was mir in den letzten Tagen zu Ohren gekommen ist«, sagte er, »weist darauf hin, dass Sie mit Ihrem Stiefsohn besonders gut ausgekommen wären. Ich frage mich also, was Sie dazu veranlasst hat, sich mit ihm in einer solch dunklen und trostlosen Nacht in einem verlassenen Haus zu treffen.«
Sie lachte. »Wirklich, Mr. Pascoe, das hört sich ja an, als hätte ich um Mitternacht ein Rendezvous auf der Sturmhöhe gehabt. Es war nur kurz nach sechs Uhr, und das fragliche Haus war jenes, in dem ich mehrere Jahre lang gewohnt habe. Das Wetter, nun, das war in der Tat wie in einem Schauerroman, allerdings nicht von der schlimmsten Sorte, es hätte ja auch eine helle Vollmondnacht sein können.«
»Wie auch immer, mir fällt es schwer zu glauben, dass Ihr Stiefsohn Ihnen gesagt oder geschrieben … wie hat er Sie überhaupt kontaktiert?«
»Er hat angerufen.«
»Verstehe. Und dabei gesagt, ›hallo, Stiefmutter, treffen wir uns heute Abend im Moscow House und plaudern über die guten alten Zeiten‹?«
»Nein, das hat er nicht gesagt.«
»Was dann?«
»Er wollte mit mir über den Tod seines Vaters, meines Mannes, sprechen. Er hätte mir einiges zu erzählen, was ich wissen sollte.«
Pascoe verstand sich gut auf die zweifelnde Pose, hatte den Kopf leicht nach links geneigt, die Zähne fest aufeinander gepresst, die Lippen weit gedehnt und die Nasenflügel geweitet, um hörbar einzuatmen. Dann sagte er in bester Henry-Irving-Tradition: »Und das hat gereicht, damit Sie sich mit ihm in einem gottverlassenen Haus treffen, in dem, wie ich erfahren habe, Ihre bisherigen Zusammenkünfte unter vier Augen, gelinde gesagt, ziemlich unglücklich verlaufen sind?«
Jetzt sah sie zu
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