Weller
miteinander verwandt waren, wo man sich gegenseitig half, besonders, wenn die hochnäsigen Wismarer sich mal wieder in die Inselgeschicke einmischen wollten, und wo die Verbundenheit mit Land und Wasser noch so stark zu spüren war wie vor hundert Jahren. Ein Inselidyll, dessen eigenwilligen Bewohnern weder die Erosionen der Nachwendezeit noch die auf die Insel geschwemmten Urlauberfluten etwas anhaben konnten. Der Poeler blieb Poeler – und wenn die Welt unterging.
Dietmar Holter war ein typisches Exemplar. Vor der so genannten Wende war er Polizist gewesen, nach der Wende blieb er Polizist. Kein Grund, etwas zu ändern, nur weil ein anderes Gesellschaftssystem herrschte. Mangelte es ihm auch an Fantasie, so war er doch loyal, wo es not tat und nahm sich die ihm nötig erscheinenden Freiheiten, wo es ihm geboten erschien. Wir entstammten derselben Generation; und trennte uns auch die unterschiedliche Sozialisation (er Ostdeutscher, ich Westdeutscher), so verstanden wir uns in vielem blind, verachteten beide blinden Gehorsam und vertrauten unserem gesunden Menschenverstand und unserer Lebenserfahrung mehr als allen Verwaltungs- und Dienstvorschriften. Wir praktizierten das, was man den kurzen Dienstweg nennt. Wo meine jüngeren Kollegen als erstes Runde-Tisch-Konferenzen anberaumten, wenn einer ihrer Klienten zum Beispiel gegen das über ihn verhängte Abstinenzgebot verstoßen hatte, machten Holter und ich solche Sachen unter uns aus. Dass meine Haltung von den jungen, windschnittigeren Kollegen nicht gebilligt wurde, war mir herzlich gleichgültig. Man konnte also behaupten, Holter und ich waren ein gutes Gespann. Deshalb trafen wir uns ab und zu auch privat, segelten zusammen oder verabredeten uns gemeinsam mit unseren Frauen zum Essen. Heute waren Ellen und ich bei den Holters zum Grillen eingeladen.
»Was hältst du davon, eine Gegendemonstration auf die Beine zu stellen?« Ellen prostete mir mit ihrem Bierglas zu. Wir saßen im Garten unter einer hohen Fichte am Tisch, der Grill, an welchem der Hausherr in karierten Bermudashorts und T-Shirt die Steaks überwachte, qualmte munter vor sich hin und durch die offen stehende Tür zur Küche hörten wir, wie Lisa, Holters Frau, mit dem Mixer hantierte. Ich kannte Ellen gut genug, um zu wissen, dass sie in Gegenwart anderer gerne ein wenig zu stark auf die Tube drückte, sich dazu hinreißen ließ, militanter, ja beinahe anarchistischer zu argumentieren, als sie tatsächlich war. Trotzdem antwortete ich ernsthaft auf ihren Vorschlag.
»Mal abgesehen davon, dass es mich schon genug Mühe kostet, jedes Jahr genügend Wismarer für den Osterfriedensmarsch zu mobilisieren, halte ich es nicht für klug, diesen Verirrten und den sie aufwiegelnden Neonazis damit so etwas wie eine Bestätigung ihrer Wichtigkeit zu verschaffen. Erfahrungsgemäß ist die Naziagitation pures Wahlkampfgeklingel. Mein Klient …« – meine professionelle Schweigepflicht gebot, vor Außenstehenden, in diesem Fall Dietmars Frau, auf Namensnennungen zu verzichten – »… muss einfach bis zum September durchhalten. Ist die Landtagswahl erst einmal gelaufen, wird sich keine dieser Figuren mehr dort am Friedenshof blicken lassen. Die anderen, die braven Bürger , ja, wie man die zur Vernunft bekommen kann, weiß ich leider auch nicht.«
»Das ist nun mal das gute Recht unserer Bürger – freie Meinungsäußerung«, mischte sich Holter ein und deutete mit dem Ende der Grillzange auf seine Brust. »Das, was wir 40 Jahre lang so schmerzlich entbehrt haben. Und nun sollen die das auch wieder nicht dürfen?« Er schaute uns mit grimmiger Miene an.
»Nun tu mal nicht so, als wärst du damals bei den Montagsdemos dabei gewesen.« Ellen musste es wissen, denn sie hatte seinerzeit tatsächlich zu denjenigen gehört, die auf dem Wismarer Marktplatz gegen das politische System der DDR protestierten.
»Uns ging es ja auch immer gut«, mischte sich Lisa ein, die mit einem Tablett in den Händen zu uns an den Tisch getreten war. »Wir hatten immer alles, was wir wollten. Obst, Kaffee und alles.«
»Klar, du hast ja auch den Konsum geleitet. Da war das kein Wunder.«
»Und um unsere Arbeitsplätze brauchten wir alle uns keine Sorgen zu machen«, überging Lisa Ellens Einwurf.
Mir war bei solchen Geplänkeln unter Ostdeutschen immer ein wenig unwohl, kannte ich doch ihre Geschichte, die damaligen Lebensumstände nur aus Erzählungen, Büchern und angeblich authentischen Spielfilmen.
»Ach, was
Weitere Kostenlose Bücher