Weller
soll’s.« Holter griff sich ein Bier aus dem Kasten zu seinen Füßen. »Jeder macht doch immer das, was er für richtig hält. Versteht mich nicht falsch. Die Nazibrut finde ich auch widerwärtig, um es mal hochdeutsch auszudrücken. Wenn unsere Leute die auch noch vor Gegendemonstranten schützen müssen, kommt mir alles hoch. Ich verstehe aber auch die Ängste der Bevölkerung. Das muss man ernst nehmen, diese Besorgnis.«
»Ich glaube, hier am Tisch sitzt niemand, der das nicht ernst nimmt. Doch was Wellers Klient passiert, ist so etwas wie ein Lynchmob.« Das Papier, mit dem Ellen sich eine Zigarette drehte, zerriss und sie knüllte es mit wildem Blick zusammen. »Der Mann hat seine Haftstrafe verbüßt und sich seit seiner Entlassung nichts mehr zuschulden kommen lassen. Diese Vorverurteilungen grenzen an Psychoterror. Was ist, wenn er sich umbringt? Wer übernimmt dann die Verantwortung dafür, ihn in den Tod getrieben zu haben?«
Das Gespräch verebbte, als Holter die Steaks auftischte und wir uns von den verschiedenen Salaten und Dips, die Lisa gezaubert hatte, bedienten. Nach dem Essen gab es Kaffee und Grappa und die Frauen zogen sich zurück, um in Lisas Hobbyraum ihre Aquarelle anzuschauen. Im Gegensatz zu Ellen war Lisa künstlerischer Laie, hatte an der Volkshochschule die Aquarellmalerei für sich entdeckt und besaß, Ellen zufolge, ein eher durchschnittliches Talent. Doch Ellen war fair, beurteilte die Bilder milde, aber doch ernsthaft, gab den einen oder anderen gestalterischen Tipp und war für Lisa so zu einer gern gesehenen Unterstützerin ihrer kreativen Ader geworden.
Dietmar stopfte seine Pfeife. Vor fünf Jahren hatte er einen Herzinfarkt erlitten, der ihn dazu gebracht hatte, nicht länger rund 30 Zigaretten am Tag zu rauchen, sondern nur gelegentlich, nach Feierabend, eine Pfeife. Er linste mich über den Rand seiner Brille an. »Und sonst?«
Ich begann zu plaudern, erzählte von der Reise, die Ellen und ich für das kommende Frühjahr planten – zwei Wochen Venedig und Norditalien mit dem Auto. Während ich sprach, kam mir dieser Reiseplan, angesichts dessen, was uns, was Ellen aktuell passiert war, sehr weit entfernt, ja beinahe abwegig vor. Wie konnte ich an Urlaub, ja überhaupt an das nächste Frühjahr denken, wenn gleichzeitig dieses fotografierende, möglicherweise frauenmordende Monster noch auf freiem Fuß war? So war ich ganz froh, als Dietmar und ich über das Reisethema auf Frankreich kamen, dann auf das Boulespielen, das vor einigen Jahren in Wismar Einzug gehalten hatte. Die drei Bahnen am Alten Hafen wurden während des Sommers gut genutzt. Ich erklärte Dietmar gerade den Unterschied der Bezeichnungen Boule und Petanque, genauer gesagt, ich klärte ihn darüber auf, dass es keinen wirklichen Unterschied gab, als irgendetwas im Zusammenhang mit dem Thema Boule mich zu irritieren begann. Am Rand meines Bewusstsein zirpte eine Erkenntnis, eine Erinnerung, die ich nicht fassen konnte, die sich aber äußerst wichtig anfühlte. Ich nahm mir vor, dem später nachzugehen, wenn ich allein war, und merkte mir nur das Stichwort Boule, um mich daran zu erinnern. Unsere Frauen stießen wieder zu uns, brachten Eiskrem, Früchte und den neuesten Inselklatsch mit.
Gegen zwölf waren wir wieder zu Hause. Ellen sperrte die große grün gestrichene Holztür auf, die in das Innere der ehemaligen Scheune führte, die sie schon bewohnt hatte, bevor wir uns kennen lernten. Ich war gern zu ihr gezogen, denn meine Zweiraumwohnung in Wendorf hatte außer der Nähe zur Seebrücke und dem Strand nichts zu bieten gehabt als die Nachbarschaft vieler anderer Mietskasernen, zu dünne Wände und Wasserflecke an der Decke. Ellens Scheune bestand aus zwei großen Räumen, die sie in Werkstattatelier und Wohnraum aufgeteilt hatte. Dann gab es noch die geräumige Küche und das Bad im Erdgeschoss. Zum Schlafen kletterten wir abends eine von uns Hühnerleiter genannte Stiege in das Obergeschoss hinauf. Dort erlaubten uns die nachträglich eingebauten großen Dachfenster den Luxus, vom Bett aus in den Sternenhimmel zu blicken.
Wir waren beide noch nicht müde; also entkorkte ich noch einen Roten – nachdem ich die Haustür von innen abgeschlossen und an allen Erdgeschossfenstern die Vorhänge zugezogen hatte. Ellen kam aus dem Bad, hatte die weißen Jeans gegen ihre Schlumper getauscht, eine weinrote Pumphose mit goldenen Monden und Sternen, hundert Mal gewaschen und heiß geliebt, die sie
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