Wells, ich will dich nicht töten
vorher schon begangen hatte?
Marci starrte die Wand an, einen Ellbogen auf den Tisch gestützt und die hohle Hand vor den Mund gelegt. Sie blies hinein, ihr Gesicht war fast leblos, die Augen schimmerten feucht.
Ich rückte einen Stuhl zurecht und setzte mich ihr gegenüber. »Es ist überhaupt nicht verrückt, wenn man weiß, wie viele Menschen gestorben sind«, widersprach ich. »Ich weiß das ja auch. Wahrscheinlich könnte ich sie sogar namentlich aufzählen.«
Marci lachte kurz und freudlos. »Manchmal frage ich mich, wie es ist, irgendwo aufzuwachsen, wo die Menschen andere Gesprächsthemen haben. Wetter oder Football, Filme. Weißt du, was ich meine?«
»So was haben wir auch«, erwiderte ich. »Es ist nur zu langweilig, um sich länger damit zu beschäftigen.«
»Das ist wohl wahr. Aber genauso haben wir mal gelebt, ob es nun langweilig war oder nicht.«
Es war an der Zeit, etwas zu unternehmen – etwas zu sagen und zur Unterhaltung beizusteuern. Bei unserem ersten Date hatte ich kaum ein Wort gesprochen, und auch bei den Verabredungen mit Brooke war ich nicht besonders aktiv gewesen. Sie hatte alles geplant und getan und die Gespräche in Gang gehalten. Ich war ihr mehr oder weniger passiv gefolgt, und jetzt verhielt mich wieder genauso wie bei Brooke. Ich musste etwas beisteuern und wirklich anwesend sein. Mich zusammenreißen und ein echter Mensch werden.
Bloß …
Was hätte ich sagen sollen? Ihr kleiner Bruder hatte mir verraten, dass sie eine Menge Freunde hatte. Was sagten die zu ihr? Redeten sie über Sport? Sagten sie ihr, dass sie hübsch war? Ich konnte weder ihre Hand halten noch ihr tief in die Augen blicken oder so etwas. Wenn ich aktiv werden wollte, durfte ich nicht mehr darauf warten, dass andere etwas taten. Ich war derjenige, den sie in ihre Küche eingeladen hatte. John Cleaver. Aber wie viel wusste sie überhaupt über John Cleaver?
Und wie sehr war sie an den Themen interessiert, mit denen sich John Cleaver beschäftigte?
Ich legte die Hände mit gespreizten Fingern flach auf den Tisch. Sonst hatte ich niemanden, mit dem ich reden konnte. Mom wollte nicht über die Morde sprechen, und Brooke wollte überhaupt nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich wollte mich aber unbedingt mit jemandem austauschen, und wenn ich Marci alles erzählte, würde ich entweder eine Vertraute gewinnen oder eine aufkeimende Freundschaft zerstören. Aber was nutzte mir eine Freundin, mit der ich nicht über alles reden konnte? Ich wollte mich so zeigen, wie ich wirklich war, und beschloss, einen Vorstoß zu wagen.
»Dein Dad hat dir von mir erzählt, nicht wahr?«
Sie hob den Kopf. »Was?«
»Niemand weiß, was ich in dem Haus getan habe. Die meisten wissen nicht einmal, dass ich überhaupt dort war. Deinem Dad ist das allerdings bekannt, und er hat es dir erzählt, richtig?«
Sie nickte. »Du hast die Menschen gerettet und Agent Forman angegriffen.«
»Trotzdem verabredest du dich mit mir?«
»Gerade deshalb verabrede ich mich mit dir.«
Ich dachte kurz nach, ehe ich weitersprach. »Was hat er dir sonst noch erzählt?«
»Über dich?«
»Über alles. Über Forman, den Handlager oder den Clayton-Killer. Erzählt er dir auch andere Sachen?«
»Er …« Sie hielt inne. »Ich frage ihn oft nach seiner Arbeit, weil ich sie faszinierend finde, aber über die Mörder hat er nicht viel rausgelassen. Nur von Formans Haus hat er erzählt und was Forman dort getrieben hat. Was Forman mit dir und den Frauen angestellt hat. Er fand, ich sollte genau wissen, was passiert ist, damit ich vorbereitet bin, falls mir mal etwas zustößt.«
»Bist du jetzt vorbereitet?«
Wieder zögerte sie, länger als zuvor.
»Ich glaube schon«, meinte sie schließlich. »Ich kenne mich ein bisschen mit Selbstverteidigung aus und habe Reizgas dabei. Mir ist klar, in welche Stadtviertel ich besser nicht gehen sollte und welche Gegenden sicher sind, aber … der Bürgermeister wurde ja im Rathaus umgebracht, und seitdem weiß ich nicht mehr, ob überhaupt noch irgendein Platz sicher ist.«
»Forman hat mich auf der Polizeiwache entführt«, warf ich ein. »Er hat eine Waffe gezogen, Stephanie geschlagen und uns beide verschleppt. Keine Zeugen, keine Aussicht auf Hilfe, gar nichts.«
»Das ist schrecklich.« Sie sah mich an, der Blick war voller Mitgefühl.
»Es war schrecklich«, bekräftigte ich, »aber das war noch nicht das Ende. Wir haben zwei Tage dort festgesessen und dann doch noch gewonnen. Nicht weil ich
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