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Wells, ich will dich nicht töten

Wells, ich will dich nicht töten

Titel: Wells, ich will dich nicht töten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Wells
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nach Hause, weil sie noch etwas abholen wollte, ehe wir zum Friendly Burger fuhren. Wie immer stand bei ihr daheim die Vordertür offen, und die vierjährigen Zwillinge trugen die gleiche Kleidung wie bei meinem letzten Besuch. Als Marci hineinging, lächelte sie die beiden an und zauste dem Jungen das Haar.
    »Hallo, Kumpel«, sagte sie. »Ist Mom im Garten?«
    »Ist die Schule schon vorbei?«, fragte das kleine Mädchen weiter.
    »Ja, ist sie«, antwortete Marci und hob beide Hände. »Ist das nicht herrlich?«
    »Mama ist im Garten«, erklärte der Junge.
    »Warum war die Schule so kurz?«, bohrte das Mädchen.
    »Weil wir schon alles wissen«, antworte Marci und ging in die Küche. Wie der Rest des Hauses war sie schäbig, und der Küchentisch klebte vor Marmelade. Vermutlich waren dies die Überreste vom Frühstück der Zwillinge.
    »Mama ist im Garten«, wiederholte der Junge.
    »Danke, Jaden, ich hab’s schon beim ersten Mal verstanden.«
    »Weißt du wirklich schon alles?«, fragte das Mädchen. »Weißt du auch, wie viele Sterne es gibt?«
    Marci wandte sich um und hockte sich vor die Zwillinge. »Es sind vier Milliarden, fünf Millionen und sechshundertdreiundzwanzig. Wollt ihr Zeichentrickfilme sehen?«
    »Au ja!«, riefen die beiden wie aus einem Mund. Marci scheuchte sie durch den Flur zurück und schaltete nebenan den Fernseher ein. Gleich darauf kehrte sie lächelnd in die Küche zurück und trat an die Spüle.
    »Ich kann mich gut erinnern, dass ich auch mal so glücklich war.« Sie nahm einen feuchten Lappen und wischte die Marmelade weg. Ich betrachtete inzwischen die Kühlschranktür. Sie war voller Kalenderblätter, Flugblätter, Buntstiftzeichnungen, Magnetbuchstaben und so weiter. Auf einem der Magneten waren Wasser und eine Fontäne aus Gummi zu sehen, auf der ein Gummifisch balancierte. Als ich mich wieder umwandte, hatte Marci sich vorgebeugt und die Hände auf den Tisch gestützt, um mich zu beobachten. Ich wandte den Blick ab, dieses Mal zum Fenster, und kam mir auf einmal sehr dumm vor. Warum wich ich ihren Blicken aus? Wahrscheinlich hielt sie mich für einen Volltrottel. Dann wurde es mir schlagartig bewusst: Es waren natürlich meine Regeln, die mich davon abhielten, Marcis Oberkörper anzusehen. Die Gewohnheit war so tief verwurzelt, dass ich sie kaum noch wahrnahm. Ich musste auf sie achten, nicht auf meine Regeln. Also überwand ich mich, ihren Blick zu erwidern. Inzwischen stand sie aufrecht und lehnte mit verschränkten Armen an der Anrichte.
    »Du bist anders«, sagte sie. »Weißt du das?«
    »Tut mir leid.«
    Sie zog die Augenbrauen hoch. »Entschuldige dich nicht dafür, dass du so bist, wie du bist.« Sie hielt eine Geldbörse hoch. »Hast du Hunger?«
    »Eigentlich nicht.«
    »Ich auch nicht.« Sie kam herüber, zog einen Küchenstuhl heran und setzte sich. Nachdem sie eine Weile ins Leere gestarrt hatte, schüttelte sie den Kopf. »Kannst du das glauben?«
    »Meinst du den Handlanger oder den Selbstmord?«
    »Beides«, antwortete sie. »Beides. Was ist nur mit uns passiert?« Sie fing meinen Blick auf. »Wusstest du, dass die Clarks die Stadt verlassen haben?«
    Die Clarks waren Max’ Nachbarn in dem Viertel, das Gartenstadt hieß. Max’ Dad war vor gerade mal neun Monaten direkt vor dem Haus umgebracht worden. Mr Crowley hatte ihn in Stücke gerissen. Ich hatte aus einem Versteck zugesehen und einen Moment zu lange gezögert, um ihn zu retten. Ich schob die Erinnerungen fort und erwiderte unschuldig Marcis Blick.
    »Was sagst du? Sind sie umgezogen?«
    »Das Haus haben sie noch nicht verkauft, aber sie sind schon weg«, bestätigte Marci. »Vor drei Tagen. Sie wollten vor Beginn des Schuljahrs verschwinden, damit die Kinder an einem sicheren Ort weiterleben können.« Sie schloss die Augen. »Fünfzehn Tote in einem Jahr, und wenn man die Selbstmorde mitzählt, sogar siebzehn.« Sie sah mich wieder an. »Ist es nicht völlig verrückt, dass ich das so genau weiß? Es ist doch krank, sich so was einzuprägen.«
    Eigentlich waren es neunzehn Tote, denn Mr Crowley hatte zwei Streuner getötet, von denen niemand etwas wusste. Die Leichen hatte er so gut versteckt, dass sie bisher nicht gefunden worden waren. Einer der Toten war im See gelandet, und vermutlich hatte er auch den zweiten dort versenkt. Wahrscheinlich gab es sogar noch mehr Opfer. Ich hatte fast zwei Monate gebraucht, um Crowley mit den Morden in Verbindung zu bringen. Und wer mochte wissen, welche Taten er

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