Wells, ich will dich nicht töten
stieg aus.
Es war merklich kühler geworden, und ich schauderte leicht, als ich die Treppe hinaufstieg und anklopfte. Die Tür stand wie üblich offen, durchs Fliegengitter wehte warme Luft heraus. Ich hörte die gewohnten Geräusche des Familienlebens – einen lauten Fernseher, Kindergeschrei, polternde Schritte auf der Treppe und auf dem Flur. Ich musste nicht lange warten, bis Marci auf der anderen Seite des Fliegengitters auftauchte. Ihre Miene war ausdruckslos.
»Hallo«, sagte sie.
»Hallo.« Ich hatte mich gründlich auf diesen Besuch vorbereitet und mir genau zurechtgelegt, was ich Officer Jensen sagen wollte. Ich hatte sogar schon einen Fluchtweg im Kopf, falls er sich tatsächlich als Dämon entpuppte. Nur hatte ich keine Ahnung, wie ich mit Marci umgehen sollte. So blieb ich einfach stehen und kam mir vor wie ein Roboter. Ich beobachtete ihr Gesicht und forschte nach einem Hinweis darauf, wie ich mich verhalten sollte. Sie wich meinem Blick aus.
Dann fiel mir ein, dass sie sehr traurig gewesen war und geweint hatte. Nur zu gern hätte ich mich überwunden und so etwas wie Empathie entwickelt. Es gelang mir nicht. Also griff ich zu dem alten Behelf: Ich tat so als ob. Was würde in einer solchen Situation ein normaler Mensch zu einer Freundin sagen?
»Alles klar?«, fragte ich. Es klang ungelenk, viel zu laut und viel zu direkt. Ich beobachtete sie genau und wartete auf eine Reaktion. Sie nickte.
»Ja. Und du?« Endlich hob sie den Kopf und erwiderte meinen Blick, die Augen waren gerötet und verheult. Sie war nicht in der Schule gewesen, und ich hatte mich schon gefragt, ob sie die ganze Nacht hindurch geweint hatte.
»Mir geht es gut«, sagte ich. Was würde ein normaler Mensch als Nächstes sagen? Darin war ich überhaupt nicht gut. Wie vor geraumer Zeit, als wir zusammen in der Küche gesessen hatten, war mir klar, dass ich ihr nichts vorspielen konnte. Als ob ich jemand wäre, der ich gar nicht war. Also holte ich tief Luft.
»Hör mal, ich kann nicht so gut mit Menschen umgehen. Ich weiß nicht, was ich sagen und wie ich … wie ich reagieren soll, und ich habe keine Ahnung, wie ich jemanden trösten kann. Ich weiß, dass du gestern Abend sehr traurig warst, und ich hätte gern etwas dagegen unternommen, aber ich … ich konnte es nicht. Es tut mir leid.«
Sie begann wieder zu weinen. »Nein, nein«, wehrte sie ab und schüttelte den Kopf. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst. »Ich war gestern Abend so durcheinander, ich war hysterisch. Das ist doch nicht deine Schuld.« Sie dachte nach. »So wie ich dich gestern behandelt habe, hätte ich nicht erwartet, dass du dich noch mal blicken lässt.«
Damit hatte ich nun überhaupt nicht gerechnet.
Sie legte eine Hand aufs Fliegengitter. »Willst du reinkommen?«
Ich zögerte kurz. »Klar.«
Sie stieß das Gitter auf, und ich wollte an ihr vorbeigehen, doch sie hielt mich auf und umarmte mich fest, legte die Arme um mich und schmiegte das Gesicht an meinen Hals. Ich spürte die heißen Tränen auf der Haut, ihren Oberkörper dicht vor mir, das gleichmäßig pochende Herz.
»Ich hasse dich ganz bestimmt nicht«, flüsterte sie. »Es tut mir leid, dass du überhaupt auf diesen Gedanken gekommen bist.«
Langsam und verunsichert nahm ich sie ebenfalls in die Arme. An einer Hand hätte ich abzählen können, wie oft ich in den letzten acht Jahren einen Menschen umarmt hatte. Wie sollte ich mich verhalten? Hilflos klopfte ihr einige Male auf den Rücken und hielt sie schließlich einfach fest.
»Entschuldige.« Schniefend zog sie sich zurück. »Komm doch rein, ehe ich dich ganz mit Rotz beschmiere.«
Pfarrer Erikson hob beim zweiten Klingeln ab.
»Hallo?«
»Rufen Sie nicht die Polizei.« Ich benutzte ein Telefon an der Raststätte und machte mir gar nicht erst die Mühe, die Stimme zu verstellen.
»Wer … John?«
»Ja.«
»Wir haben eine Abmachung, John. Du redest mit meiner Freundin, oder ich schalte die Polizei ein. Ich bestehe darauf, dass wir uns beide daran halten.«
Ich hatte mir vorher genau überlegt, wie ich ihn von meiner Fährte abbringen konnte. »Halten Sie mich für verrückt?«
Er dachte nach. »Sie ist Therapeutin, John. Keine Psychiaterin. Sie wird dir helfen, mit allem zurechtzukommen.«
Ich hatte alle Therapeuten und psychologischen Berater der Stadt überprüft, und unter den dreien, die ich gefunden hatte, waren zwei Frauen: Mary Adams, die im Krankenhaus traumatisierte Patienten behandelte, und Pat
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