Wells, ich will dich nicht töten
Niemand wird etwas davon erfahren.
»Lassen Sie mir eine Woche Zeit«, flüsterte ich. »Nur eine Woche.«
»Du hast gesagt, ich könne dir nicht trauen.«
Ich blickte ihm in die Augen. »Was diese eine Woche angeht, können Sie mir trauen.«
Er überlegte kurz und blickte hin und her, als müsse er nachdenken. Schließlich nickte er. »Eine Woche, dann kommst du wieder. Aber wenn du jemandem wehtust, dann werden deine Qualen in diesem Leben nicht enden. Das schwöre ich dir bei Gott.«
Ich holte tief Luft. »Eine Woche.« Ich öffnete die Tür und verschwand im Dunkeln.
ZWÖLF
Auf dem Heimweg fuhr ich mehrere Umwege und spähte immer wieder über die Schulter zurück, ob mir jemand folgte. Ständig nahm ich Bewegungen aus den Augenwinkeln wahr. Gestalten und Schatten, die mich beobachteten und verfolgten. Sobald ich mich umwandte, verschwanden sie. Ich hatte ihm zu viel verraten. Mir war fast übel vor Aufregung, ich zitterte am ganzen Körper. Mehrere Blocks von unserem Haus entfernt stellte ich das Auto ab, schlich in einen fremden Hinterhof und kletterte über den Zaun, um den Wald dahinter zu erreichen. Dort war es stockfinster; in der mondlosen Nacht waren die Schatten und Formen kaum vom schwarzen Hintergrund zu unterscheiden. Ich wartete, beobachtete und lauschte mit höchster Aufmerksamkeit, doch niemand folgte mir. Ich war allein. Schließlich tastete ich mich zwischen den Bäumen hindurch, auf einer Seite die dunklen Häuser, auf der anderen der endlose Wald, bis ich den Parkplatz unseres Bestattungsunternehmens erreichte. Niemand wartete auf mich, keine Streifenwagen und keine sabbernden Monster weit und breit. Inzwischen war es fast zwei Uhr morgens. Ich betrat das Haus, schloss hinter mir ab und fiel aufs Bett.
Gut möglich, dass die Angelegenheit tatsächlich einen religiösen Hintergrund hatte. Die drei Morde konnten das Werk eines selbst ernannten Racheengels sein. Warum aber sollte Niemand, eine Dämonin, die Sünder bestrafen? Sie war nicht aus eigenem Antrieb hier. Ich hatte sie gerufen, und sie war gekommen, um mich zu jagen. Ihr Handeln musste auch aus diesem Blickwinkel erklärbar sein.
Betrachtete sie auch mich ebenfalls als Sünder? Immerhin hatte ich ihre Freunde getötet.
Zwei Möglichkeiten drängten sich mir auf: Entweder war alles Teil eines komplizierten Plans, um mich aufzuspüren, damit sie sich rächen konnte, oder sie vertrieb sich nur die Zeit, während sie auf andere Weise nach mir suchte. Den Dämonen, denen ich bisher begegnet war, hatte etwas gefehlt – sie hatten keine Identität, keinen Körper oder keine Gefühle besessen. Das Töten hatte ihnen geholfen, diese Löcher zu stopfen, wenngleich immer nur für kurze Zeit. Die Dämonin tötete die Menschen nicht, weil sie Sünder waren, sondern weil der Glaube, sie seien Sünder, dem Akt des Tötens aus ihrer Sicht eine tiefere Bedeutung verlieh. Es war die einzige Art und Weise, die sie kannte, um die Mängel in ihrer Seele zu beheben.
Ich musste herausfinden, was die Schuld der Opfer für sie bedeutete. Deshalb musste ich in Erfahrung bringen, was genau sie den Opfern vorzuwerfen hatte. Mr Coleman hatte sich Kinderpornos angesehen, also hatte sie ihn ermordet und die Augen entfernt, mit denen er die Tat begangen hatte. Das war relativ klar und leicht zu durchschauen. Was aber hatten die beiden anderen Opfer getan?
Weder Pastor Olsen noch Bürgermeister Robinson hatten zusätzliche Körperteile verloren. Nur die Hände und die Zunge. Das schien die Grundlage zu sein. Vielleicht nahm sie allen Sündern die Hände und die Zunge weg, gleichgültig, wie das jeweilige Verbrechen ausgesehen hatte, und denen, die sie besonders schlimm fand, stahl sie weitere Körperteile.
Die Zunge war leicht zu erklären – sie stand für die Worte der Menschen. Was aber hatte der Pastor gesagt, um den Zorn des Handlangers auf sich zu ziehen? Was hatte der Bürgermeister gesagt? Wenn man nur an öffentliche Reden dachte, hatten die drei Opfer nicht viel gemeinsam gehabt. Einer hatte über Religion gesprochen, der andere über Politik, und der dritte hatte in der Schule Mathematik unterrichtet. Der Bürgermeister und der Lehrer hatten höchstens im Bereich der Wirtschaftswissenschaften eine Gemeinsamkeit, aber das galt sicher nicht für den Pastor – es sei denn, er hatte über Angebot und Nachfrage oder so gepredigt.
Predigen, beten und lehren …
Denkbar war auch, dass die Gemeinsamkeit nichts mit den Aussagen der Opfer
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