Wells, ich will dich nicht töten
der Beweisstücke hatte ihn wütend gemacht, es musste etwas anderes sein. Irgendetwas anderes, das mit dem Verbrennen zu tun hatte. Was hatte er getan, das er nicht hätte tun müssen? Er hätte nicht weglaufen müssen. Er hätte beim Feuer bleiben und den Wanderern zuwinken können, als sie vorbeikamen. Niemand hätte irgendetwas bemerkt. Die verkohlten Brocken entdeckten sie erst, als sie sich genähert und im Feuer herumgestochert hatten, und sie hatten sich nur genähert, weil die Flucht des Täters sie neugierig gemacht hatte. Er hätte nicht wegrennen müssen, hatte es aber trotzdem getan. Warum?
Es lief wieder einmal auf Schuldgefühle hinaus. Er war geflüchtet, weil niemand sehen sollte, was er getan hatte. Er hatte Schuldgefühle, er schämte sich. Er tötete, weil die Opfer Sünder waren, doch das Töten war ebenfalls eine Sünde, und das wusste er. Deshalb wurde er wütend und stach mehr als dreißigmal auf die Opfer ein. Deshalb zog er sich an den See zurück und verbrannte die Hände, als sei es eine rituelle Reinigung …
Ein Ritual.
Was, wenn er das Ritual nicht beendet hatte?
Die Angriffe des Handlangers wiesen deutlich auf ein rituelles Verhalten hin – die sorgfältige Planung der Tat, die präzisen Tötungen, die Art und Weise, wie er die Leichen zur Schau stellte und in Szene setzte. Was, wenn das Ritual mit der Tötung noch längst nicht beendet war, sondern die zeremonielle Zerstörung der letzten verbliebenen Körperteile des Opfers einschloss? Er hatte es beim Pastor und dann bei Coleman getan, und als er es bei Bürgermeister Robinson hatte tun wollen, war er gestört werden. Die Wanderer hatten ihn verscheucht, ehe er damit fertig gewesen war. Er wollte sich mit dem Ritual von der Schuld reinwaschen und die Wut abflauen lassen. Ohne dieses emotionale Ventil hatte sich die Wut immer weiter gesteigert, bis sie sich bei Mr Coleman in einem animalischen Ausbruch entladen hatte. Vierundsechzig Stichwunden. Die Teile fügten sich zusammen.
Beinahe jedenfalls. Officer Jensen hatte gesagt, die Hände und die Zunge des Bürgermeisters seien vom Feuer zerstört worden. Außer ein paar verkohlten Brocken und Knochen war nichts übrig geblieben. Was gab es außerdem noch zu tun? Ein Gebet zu sprechen, das der Killer nicht gesprochen hatte? Einen Fluch auszustoßen, den er nicht ausgestoßen hatte? Was war bei diesem Ritual anders?
Die Handschuhe.
Stephanie hatte Handschuhe erwähnt. Zusammen mit Colemans Händen hatte man die Überreste von verbrannten Handschuhen im Feuer gefunden, desgleichen beim Feuer für die Hände des Pastors. Bei Bürgermeister Robinson hatte es keine Handschuhe gegeben. Dies war das fehlende Puzzleteil, dies war der Unterschied, der den nächsten Angriff so viel heftiger gemacht hatte. Er war nicht mehr dazu gekommen, die Handschuhe zu verbrennen. Was hatten die Handschuhe zu bedeuten? Er trug Handschuhe, wenn er die Opfer tötete, also waren sie ein Beweismittel. Ein Ritual wie dieses hatte aber sicher nicht nur den Zweck, Spuren zu vernichten. Er zerstörte die Hände der Opfer, weil sie die Sünden symbolisierten, die er ihnen vorwarf. Wenn er die Hände mit Sünden gleichsetzte, dann konnte man annehmen, dass die Handschuhe seine eigenen Hände und damit die eigenen Sünden repräsentierten. Immer und immer wieder, Mord für Mord. Was hatte er am Ende des Briefs geschrieben? Die Stadt solle durch das Feuer geläutert werden. Er benutzte das Feuer, um die Sünden der Menschen auszulöschen, und dieses eine Mal hatten die Wanderer ihn daran gehindert. Trotz des Geheuls über gerechte Strafen und Vergeltung wusste er ganz genau, dass er ebenso schuldig war wie die Opfer. Vielleicht sogar schuldiger.
Das war die Schwachstelle in seiner Rüstung.
Ich trat einen Schritt vom Kalender zurück und blickte mich rasch um. Margaret arbeitete in der Ecke an den inneren Organen, Mom mühte sich mit der Pumpe ab. Sie schaute auf, erwiderte meinen Blick und konzentrierte sich mit schmalen Lippen wieder auf den Toten. Das Geräusch der Pumpe erfüllte den Raum, rhythmisch wie ein Herzschlag. Ich atmete tief durch. Ich habe ihn, dachte ich. Ich habe seinen Code geknackt und weiß, wie er denkt. Mir war immer noch nicht klar, über welche Möglichkeiten dieser Dämon verfügte, doch da er menschliche Waffen einsetzte, besaß er vermutlich weder Krallen noch übernatürliche Kräfte oder dergleichen. Für Niemand galt das möglicherweise nicht. Über sie wusste ich so gut wie
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