WELTEN-NEBEL
weiterziehen konnten, umso besser.
Das Delta des mächtigen Flusses war ein großes Gebiet, Dutzende Rinnsale und Bäche suchten sich ihren Weg durch die schlammige Ebene hin zum Meer. Es hätte sicher einige Tage gedauert, den kompletten Küstenabschnitt abzusuchen. Doch dies war glücklicherweise nicht nötig. Ein innerer Drang ließ ihn zielgerichtet voranschreiten. Ewen folgte ihm, stellte keine Fragen, forderte keine Erklärungen. Er wäre ohnehin außerstande gewesen, solche zu geben. Was immer ihn leitete, es war nicht in Worte fassbar.
Seit Verlassen des Nord-Dorfes hatten sie viele intensive Gespräche geführt, hatten sich erstmals wirklich mit ihrer Mission und deren Anforderungen auseinandergesetzt. Waren sie aus einem diffusen Gefühl der Dringlichkeit und der Verpflichtung aufgebrochen, so hatten sie nun tiefere Einblicke in ihre eigene Motivation und Rolle gewonnen. Die Erkenntnis, dass es ihnen von Kindesbeinen an bestimmt gewesen war, war unumgänglich gewesen. Weder ihre Lebensgeschichten noch ihre Gaben waren Produkte des Zufalls. Ewen hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er die Tradition seiner Eltern und Großeltern fortsetzte. Wie sie hatten er von den Göttern eine Aufgabe erhalten. So hatte er es bisher noch nie betrachtet gehabt.
Über ihre Unterhaltungen aber war ihnen noch etwas offenbar geworden: Sie waren aufeinander angewiesen und sie mussten vertrauen, sowohl einander als auch auf ihre eigenen Stärken. Ewen hatte mit der Einwilligung in seinen Weg einen großen Schritt gemacht. Jetzt musste er ihr und sich selbst beweisen, dass ihr Vertrauen gerechtfertigt war.
Das Tageslicht begann zu schwinden, als er ihn entdeckte: einen kleinen weißen Fleck, wenige Schritte von der Küste entfernt. Da war sie, die Quelle. Die Überprüfung seiner Vermutung aber musste bis zum Licht des nächsten Morgens warten.
Das Wasser war nicht tief, dafür sorgten die vom Fluss abgelagerten Sedimente. Ohne Mühe erreichten sie die Stelle, die Btol am Vorabend ausgemacht hatte. Sie hatte ihn begleitet, auch wenn dies ein Bad im eisigen Meer bedeutete. Diesmal wollte auch sie die Quelle berühren.
Btol ging in die Hocke und tastete auf dem Boden herum. Er brauchte lange, ihre Zähne begannen zu klappern. Endlich nickte er und sie ließ sich neben ihm nieder. Er führte ihre Hand. Tief tauchte sie in den lockeren Sand ein, bevor sie auf etwas Hartes stieß. Kaum hatte sie Kontakt zu der steinernen Scheibe, da spürte sie es, die Berührung eines fremden Geistes. Es war völlig anderes als jeder Kontakt, den ihr ihre Gabe je ermöglicht hatte. Dieses Bewusstsein war nicht menschlich. Es war so kraftvoll und stark. Innerhalb eines Wimpernschlages hatte es ihre mentalen Barrieren durchbrochen. Erst war sie erstaunt, dann fasziniert, dann aber spürte sie das Böse. Sie erschauderte. Wie konnte diese Quelle, ein Werk der Götter, so viel Grauen enthalten? Gefahr, lass los, warnte ihr Unterbewusstsein. Doch sie musste wissen, womit sie es hier zu tun hatte. Es erforderte ihre ganze Kraft, die Gabe gegen dieses bösartige Bewusstsein einzusetzen. Gleichzeitig musste sie gegen die vom fremden Geist ausgesandten Schwärze ankämpfen. Gerade als sie darin zu versinken drohte, entriss sie dem Bösen sein Geheimnis: Es nährte sich am Nebel. Deshalb wurde er schwächer. Sie wollte Btol warnen. Unter keinen Umständen durfte er die Quelle stärken und dieser Kreatur damit neue Nahrung geben. Sie wollte schreien, doch ihre Lippen blieben versiegelt. Mit letzter Kraft riss sie die Hand von dem Stein fort. Dann verlor sie das Bewusstsein.
Scheinbar ohne Grund begann Ewen zu zittern, nur Augenblicke, nachdem sie ihre Hand auf der Suche nach der Quelle ausgestreckt hatte. Urplötzlich sackte sie zusammen. Er konnte sie gerade noch auffangen, bevor ihr Kopf unter Wasser geriet. Schnell schaffte er sie an Land, kontrollierte Atem und Herzschlag. Es hatte den Anschein, als schliefe sie. Doch so sehr er sich auch bemühte, es war ihm unmöglich, sie zu wecken.
Was war nur geschehen?
Er trug sie zu dem Platz, an dem sie ihre Sachen zurückgelassen hatten. Sollte er es wirklich wagen, sie von ihrer nassen Kleidung zu befreien? Er war sich unsicher, ob sie dies nicht als unangemessen ansehen würde. Andererseits hatte er keine Wahl. Es war einfach zu kalt, um die Kleidung am Körper trocknen zu lassen.
So sehr er sich auch bemühte, ihrer Nacktheit keine Beachtung zu schenken, er konnte nicht umhin, die
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