WELTEN-NEBEL
ausmachen. Auch fehlte es seinen Tagen an den vielen schönen Momenten, die er mit ihr geteilt hatte. Er vermisste ihr Lachen, die Art, wie sie sich das Haar aus dem Gesicht strich, ihre Neckereien, wenn ihm bisweilen ein Mahlzeit misslungen war. Sein Herz war angefüllt mit Kummer und Sehnsucht.
Jahr 3638 Mond 1 Tag 8
Südliche Küste, Martul
Die Quelle war schnell gefunden, auch wenn sie nur einige schwache Nebelschwaden ausstieß. Die Wiederherstellung ihrer vollen Kraft dauerte merklich länger als bei den beiden anderen. Wenn die verbleibenden zwei Quellen ebenso schwach waren, musste er sie so schnell wie möglich erreichen. Er war sich nämlich nicht sicher, ob er in der Lage wäre, eine trockene Quelle wieder zum Sprudeln zu bringen. In der Prophezeiung war von 'Heilung' die Rede gewesen, nicht von Wiederbelebung. Auch waren die Folgen einer gänzlich versiegten Quelle nicht absehbar. Schon die schwachen Quellen hatten merklichen Einfluss. Überall hatte er Verwunderung über den ausbleibenden Winter vernommen. Normalerweise lagen auch die Ebenen Martuls zu dieser Jahreszeit unter einer Schneedecke begraben, doch in diesem Winter war noch nicht eine Flocke gefallen.
Er wusste nicht, ob auch in den Bergen solch gute Wetterbedingungen herrschten, daher sah seine weitere Reiseplanung vor, sich fortan in der Nähe der Küste zu halten und so die östliche Quelle zu erreichen. Zwar war dieser Weg länger, ersparte ihm aber eine Durchquerung der Berge. Allerdings würde er die ganze Zeit auf keine Siedlung treffen. Daher würde er sich zuvor mit genügend Proviant ausstatten müssen. Deshalb musste er noch einen kleinen Umweg zur nächsten Siedlung in Kauf nehmen.
Jahr 3638 Mond 1 Tag 17
Rogmündung, Martul
Sie war noch am Leben und, sofern sie das beurteilen konnte, auch noch nicht verrückt geworden. Sie hatte Wege gefunden, die Fesseln ihres Gefängnisses zumindest zeitweise abzustreifen. Es hatte eine Weile gedauert, bis ihr diese Idee gekommen war. Auch hatte sie gezögert, den ersten Versuch zu wagen. Eine Enttäuschung ihrer Hoffnungen wäre mehr gewesen, als sie zu ertragen vermocht hätte. Nachdem sie sich endlich dazu durchgerungen hatte, kamen ihre Bedenken ihr albern vor. Es war ihr mühelos gelungen, Kontakt zum Geist ihrer Pflegerin herzustellen. Durch ihre Augen hatte sie endlich sich selbst und ihre Umgebung betrachten können.
Anfangs hatte sie die Verbindung nur so lange aufrechterhalten können, wie Körperkontakt zwischen ihnen bestand. Es war, als müsse Ewen den Umgang mit ihrer Gabe erst wieder erlernen. Aber mit der Zeit wurde sie immer geübter. Zwar hielt sie sich stets an der Oberfläche des fremden Geistes auf, doch dies war der Vorsicht und nicht ihrem Unvermögen geschuldet. Sie wollte nicht, dass Malinca, so hieß die ältere Frau, ihre Anwesenheit bemerkte. Seit ihr die Verbindung auch über kürzere Entfernungen möglich war, nahm sie, wenn auch indirekt, am Leben im Dorf teil. Diese äußeren Anregungen halfen ihr, ihre Sinne und ihren Geist wach zu halten. Dass noch ein weiterer Effekt eintrat, bemerkte sie erst nach einer ganzen Weile. Wann immer sie ihren Körper durch Malincas Berührungen erlebte, veränderte sich ihre Wahrnehmung. Anfangs hatte sie es für einen bloßen Effekt der geistigen Verbindung gehalten, doch nach einer Weile schwand die Wirkung auch dann nicht mehr ganz, wenn der körperliche Kontakt abriss.
Sie hatte viel über diese Wandlung nachgedacht. Das Band zwischen Körper und Geist begann sich zu erholen. Es bestand die Möglichkeit, dass sie wieder Kontrolle über ihren Körper erlangen würde. Euphorisch versuchte sie, die Augen zu öffnen. Dies misslang zwar, doch glaubte sie, ein schwaches Flackern ihrer Lider verspürt zu haben. Von nun an würde sie es regelmäßig versuchen. Sicher würde es ein langer, beschwerlicher Weg werden, doch erstmals bestand Hoffnung.
Jahr 3638 Mond 2 Tag 7
Östliche Küste, Martul
Einen Mond voller Einsamkeit, nur das Rauschen des Meeres als ständigen Begleiter. Beinahe mechanisch hatte er seine Tagesmärsche hinter sich gebracht. Innerlich fühlte er sich so leer. Einzig sein Pflichtbewusstsein hielt ihn aufrecht, hatte ihn immer weiterlaufen lassen. Er hatte sich jeden Gedanken an Ewen verboten, denn je länger er über sie nachgedacht hatte, um so sicher war er gewesen, dass sich ihr Zustand nicht gebessert hatte. Wäre sie wohlauf gewesen, sie hätte ihre Gabe genutzt, um mit ihm in Kontakt
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