WELTEN-NEBEL
in Richtung Landesinnere reisen müssen. Wenn sie sich beeilten, konnten sie das Dorf kurz nach Einbruch der Dunkelheit erreichen. Da sie ohnehin bald neuen Proviant benötigten, war es vielleicht keine so schlechte Idee. Allerdings war sie nicht sicher, ob ihre Kraft für einen zügigen Fußmarsch reichte. Hier sitzen bleiben aber konnte sie auch nicht, denn die Kälte kroch ihr immer weiter in die Glieder.
„ Lass uns weitergehen, dann erreichen wir vielleicht noch heute eine Siedlung.“ Sie ließ sich von ihm aufhelfen und gemeinsam ließen sie die Küste hinter sich. Sie waren erst wenige Schritte gegangen, als sie sich erneut an ihn wandte. Ihr lag noch etwas auf dem Herzen. „Btol, ich möchte mich entschuldigen. Es war nicht fair, dass ich unbedingt meinen Willen durchsetzen wollte. Wenn du möchtest, können wir morgen nochmals über unseren weiteren Weg beraten. Ich möchte, dass du weißt, ich vertraue dir.“
Er nickte. „Schon gut, Ewen. Auch ich war wohl etwas starrsinnig. Ich muss mich also ebenso entschuldigen.“
„ Dann ist die Sache jetzt erledigt?“
Er nickte und fügte hinzu: „Geht es dir wirklich gut? Schaffst du es zum Dorf?“
„ Ich werde es schon schaffen. Außerdem habe ich ja einen Freund an meiner Seite.“ Die Erleichterung, sich wieder mit Btol versöhnt zu haben, ließ sie lächeln.
Jahr 3637 Mond 11 Tag 3
Nord-Dorf, Martul
Gebannt lauschten die Dorfkinder seiner Geschichte, die von den Abenteuern eines kleinen Jungen in den Wäldern des Südens handelte. Inzwischen hatte er einige Übung als Erzähler. Es gefiel ihm, immer neue Charaktere und Orte zu erfinden. Bisweilen wob er auch magische Elemente ein. Allerdings kam dies nur bei Kindern gut an, die Erwachsenen stellten in solchen Fällen stets kritische Fragen, die die ganze Geschichte verdarben. Kinder aber waren noch zu grenzenlosem Staunen und Begeisterung fähig, sie waren die dankbareren Zuhörer.
In seinem bisherigen Leben hatte er nur wenig Kontakt zu Kindern gehabt. Selbst als er eines gewesen war, hatte es nur wenige gleichaltrige Spielgefährten gegeben, was in seiner Stellung als Prinz begründet gewesen war. Erst seit er als Erzähler durchs Land reiste, hatte er entdeckt, welch Quell der Freude Kinder sein konnten. Selbst Kleinigkeiten machten sie glücklich. Manchmal beneidete er sie um ihre Unbeschwertheit, er konnte sich nicht erinnern, jemals so unbekümmert gewesen zu sein.
Der Optimismus und die Energie, die er nach der Stärkung der ersten Quelle verspürt hatte, waren inzwischen verflogen. Er fühlte sich müde und erschöpft, ganz so, als liefen sie schon Jahre durch Martul. Ewen schien es ähnlich zu gehen, denn sie hatte seinem Vorschlag, einige Tage im Nord-Dorf zu bleiben, ohne Zögern zugestimmt. Ihr Sturz war zwar ohne Folgen geblieben, dennoch wirkte sie abgekämpft. Er machte sich ernsthafte Sorgen, hatte bisher jedoch nicht gewagt, sie darauf anzusprechen. Auch die Frage der weiteren Wegplanung war noch immer nicht geklärt. Er befürchtete, sie würden darüber wieder in Streit geraten. Dennoch, bevor sie weitergingen, mussten sie eine Klärung herbeiführen. Er hoffte, am Abend den Mut dazu zu finden.
Sie beobachtete ihn aus der Ferne. Es war faszinierend, wie er sich darauf verstand, selbst die unruhigsten Kinder mit seinen Geschichten zu fesseln und zum Stillsitzen zu bringen. Er hatte Freude daran, das konnte sie sehen. Er fügte sich so gut in die Rolle, die sie eigentlich nur zur Tarnung angenommen hatten. Selbst als ihr Ehemann gab er eine gute Vorstellung ab. Anfang hatte es sich seltsam angefühlt, wenn er sie als seine Frau vorgestellt hatte, doch inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt. Manchmal stellte sie sich vor, wie es wohl wäre, wenn sie wirklich ein Leben als Annyl und Torev führen könnten, frei von der Last der Verantwortung für das Schicksal Martuls.
Bisher waren sie zwar auf keine allzu großen Hindernisse gestoßen, aber irgendetwas sagte ihr, dass dies nicht so bleiben würde. Bisher war es einfach zu leicht gewesen. Immer, wenn sie ratlos gewesen waren, hatten sie ein Zeichen bekommen oder gar eine hilfreiche Person getroffen. Wenn sie daran dachte, was Btol ihr über die Gefahren und Beschwernisse erzählt hatte, denen seine Eltern und Großeltern auf ihren göttlichen Missionen ausgesetzt gewesen waren, schauderte es sie. Wären sie und Btol in der Lage, solche Herausforderungen zu meistern?
Sie schob die dunklen Gedanken beiseite und
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