WELTEN-NEBEL
Von diesem Punkt würde es weitgehend bergab gehen. In weniger als einen Mond sollte er das Dorf an der Rogmündung erreicht haben, sofern er überflüssige Aufenthalte in Dörfern vermied. Seine Reisegeschwindigkeit war deutlich höher als damals, als er von jenem Dorf zur Bewahrerin gereist war. Diesmal trieb ihn nicht ein diffuses Gefühl, sondern der Wunsch, bald wieder mit Ewen vereint zu sein. Besonders seit er ihre Nähe gespürt hatte, beherrschte Ewen all seine Gedanken. Sogar ihre gemeinsame Aufgabe trat dabei in den Hintergrund.
Gerade als er sich ein Nachtlager auf einem halbwegs trockenen Felsplateau einrichtete, spürte er die vertraute Präsenz. Endlich. Noch bevor sie ihm eine Nachricht senden konnte, waren seine Gedanken bereits voller Fragen an sie: Wie es ihr ginge? Ob sie der Anstrengung dieser Verbindung gewachsen wäre? Was sie noch hatte mit ihm besprechen wollen? Nur mühsam konnte er die Fragen zurückdrängen, um auf ihre Antworten zu lauschen.
'Es geht mir gut. Heute bin ich zum ersten Mal aufgestanden. Wenn es so weitergeht, kann ich dir entgegengehen.'
'Bleib und erhole dich. Ich bin in einem Mond schon bei dir.'
'Vielleicht haben wir nicht so viel Zeit. Als ich damals die Quelle berührte, habe ich etwas gesehen.'
'Was?'
'Ich glaube nicht, dass ich es dir auf diesem Weg erklären kann. Solange du nicht auf die fünfte Quelle triffst, ist es auch uninteressant.'
Wollte sie es ihm nicht sagen oder konnte sie nicht? Es war sinnlos, mit ihr zu streiten. Sicher würde Ewen die Verbindung ohnehin nicht mehr lange aufrechterhalten können. Daher teilte er ihr noch schnell mit, wo er sich befand und ermahnte sie nochmals, auf sich achtzugeben.
Ihre geheimnisvollen Andeutungen gaben ihm dennoch zu denken. Dabei grübelte er weniger darüber, was sie wohl Wichtiges wusste, als vielmehr, warum sie es ihm nicht sagte. Mangelte es ihr an Vertrauen? Darüber würde er sicher nachdenken, bis sie einander wiedersahen.
Jahr 3638 Mond 2 Tag 22
Rogmündung, Martul
Es war ein Genuss, durch das Dorf zu laufen, auf eigenen Beinen und ohne den stützenden Arm Malincas. Die Sonne schien ihr ins Gesicht und ein lauer Wind kam vom Meer her. Wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben nahm sie bewusst den Druck wahr, der beim Laufen über die Fußsohlen wanderte. Sie hatte erwartet, nach einigen Schritten Erschöpfung zu verspüren, doch sie fühlte sich so gut wie noch nie zuvor, lebendig und voller Energie. Am liebsten wäre sie augenblicklich losgelaufen, um Btol entgegenzugehen.
Leider war Malinca strikt dagegen. Seit Ewen ihre Sprache wiedererlangt hatte, hatte sie permanent mit ihrer Pflegerin diskutieren müssen. Die ältere Frau war der Meinung, dass ihre Schutzbefohlene zu wenig Rücksicht auf ihre Gesundheit nahm und sich stets zu viel zumutete. Selbst diesem Spaziergang hatte Malinca skeptisch gegenübergestanden. Daher hatte Ewen es schlichtweg nicht über sich gebracht, ihr Vorhaben auch nur zu erwähnen. Lieber wollte sie ihre Energie darauf verwenden, fortan regelmäßig mit Btol in Verbindung zu treten. Sie mussten dabei ja nicht immer Nachrichten austauschen, ihr würde es genügen, als stumme Zeugin seinen Weg zu verfolgen, ganz so, wie sie es früher getan hatte.
Fast wehmütig dachte sie an jene Zeit zurück, als die Verbindung zu Btol nur eine willkommene Abwechslung im alltäglichen Einerlei gewesen war. Rückblickend betrachtet hatte sie ein wundervolles Leben gehabt. Damals hatte nicht das Schicksal Martuls auf ihren Schultern gelastet. Auch war ihre Beziehung zu Btol weit weniger fordernd gewesen. Bei ihrer letzten Verbindung hatte sie deutlich gespürt, dass etwas nicht stimmte. Allerdings wusste sie nicht, was es war. Während des Gespräches war es ihr nicht möglich gewesen, gleichzeitig seine Gefühle zu erkunden, dazu hatte ihre Kraft nicht ausgereicht. Wahrscheinlich würde sie Btols Gefühle nur ergründen können, wenn sie ihm persönlich gegenüberstand. Noch ein Grund mehr, ihm entgegenzugehen. Wenn sie doch nur wüsste, ob dies auch ihrer Mission nutzen würde. Doch sie hatte keinerlei Anhaltspunkte, wo sich die fünfte Nebelquelle befand. Wenn sie sonst schon nichts tun konnte, wollte sie wenigstens darüber intensiv nachdenken.
Jahr 3638 Mond 2 Tag 26
Große Berge , Martul
Morgen schon würde er die Ebene erreichen. Der Abstieg war ohne besondere Vorkommnisse verlaufen. Nur einmal war etwas Seltsames geschehen. Vor vier Tagen war er am Morgen
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