WELTEN-NEBEL
gewesen.
Nach einem Tag auf dem Wasser konnte sie endlich frei durchatmen. Sicher hatte sie ihre Verfolger nun abgeschüttelt. Genau genommen wusste Süylin nicht, ob sie verfolgt wurde, doch es war ausgeschlossen, dass ihr Verschwinden unbemerkt geblieben war. Eigentlich war es ein Wunder, dass sie es überhaupt aus dem Palast geschafft hatte. Sie hoffte, dass Ellinas Beteiligung daran nicht entdeckt würde. Auf keinen Fall wollte sie, dass ihre langjährige Dienerin die Wut ihres Vaters zu spüren bekam. Nachdenklich strich sie sich durch das blonde lockige Haar. Sie musste sich noch daran gewöhnen, dass es nun nicht mehr hüftlang war, sondern ihr kaum noch auf die Schultern reichte. Da dies die einzige Möglichkeit gewesen war, ihr Aussehen zu verändern, hatten die Kleider ihre allzu bekannte Erscheinung verbergen müssen. Erst als das Schiff in Gal ablegte, hatte sie gewagt, zumindest die Kapuze des Mantels zurückzuschlagen. Hier auf dem Schiff zwischen den Seeleuten und dem einfachen Volk, das den Großteil der Passagiere stellte, fühlte sie sich einigermaßen sicher vor Entdeckung. Dennoch zuckte sie jedes Mal zusammen, wenn jemand sie ansprach. Manchmal schrak sie schon zusammen, wenn sich ihr nur jemand näherte.
So auch jetzt, als plötzlich ein junger Mann an sie herantrat. Sein freier Oberkörper ließ sie vermuten, dass es sich um ein Mitglied der Schiffsbesatzung handelte. Andererseits wirkte der Mann gepflegt und kultiviert, ganz anders als die Matrosen, derer sie bis jetzt ansichtig geworden war. Allerdings beschränkten sich ihre Erfahrungen in dieser Hinsicht auf die Mannschaft dieses Schiffes, denn dies war nicht nur ihre erste Seereise, es war gar das erste Mal, dass sie am Hafen gewesen war. In Anbetracht der Tatsache, dass sie ihr ganzes bisheriges Leben am Ufer des Galsees verbracht hatte, war dies wirklich erstaunlich.
Irgendwie kam der Mann ihr bekannt vor, sie wusste nur nicht zu sagen, warum. Doch es war zu spät, sich wieder unter der Kapuze zu verbergen, ein solches Verhalten hätte erst recht Verdacht erregt. Daher senkte sie lediglich den Blick – eine Geste, die er sicher einer gewissen Schüchternheit zuschreiben würde –, als er sie ansprach. „Sei gegrüßt, hübsches Mädchen. Ganz allein auf Reisen?“
Früher als gedacht ergab sich die Gelegenheit, sein Gewerbe wieder aufzunehmen. Seit sie an Bord gegangen war, beobachtete er die junge Frau nun schon. Wie sich herausstellte, hatte ihn sein erster Eindruck nicht getrogen, sie war wirklich so unbedarft, wie es schien. Ihre scheue Art, gepaart mit den ständig suchenden, teils vor Staunen geweiteten grauen Augen, hatte sie verraten: Sie war zum ersten Mal alleine unterwegs. Ihm blieb nur wenig Zeit, um sich ihr unentbehrlich zu machen, denn in nur vier Tagen würden sie Bellan erreicht haben. Schnell hatte er sich für eine Vorgehensweise entscheiden müssen, doch das war ihm angesichts seines Gegenübers nicht schwergefallen. Sie war jung, hübsch und unerfahren, unmöglich würde sie seinen Schmeicheleien widerstehen können. Schon ihre Reaktion auf seinen ersten Annäherungsversuch zeigte dies mehr als deutlich. Wie sie ihn erst musterte und dann scheu die Augen niederschlug. Er mahnte sich, nicht zu hastig vorzugehen, wollte er sich diese Chance doch nicht entgegen lassen, indem er sie verschreckte.
Doch sein ganzes Bild von ihr wurde auf den Kopf gestellt, als er die Antwort auf seine Frage vernahm. Abweisend, fast herrisch gab sie diese: „Ich wüsste nicht, was dich das angeht, Schiffsjunge?“
Wenn er noch jemals irgendeine Chance haben wollte, half jetzt nur Rückzug. „Entschuldige die Störung.“
Rihnall beeilte sich, an seine Arbeit zurückzukehren. Nicht, dass zu allem Überfluss auch noch der Kapitän auf seine Pause aufmerksam wurde.
Noch während ihr die harschen Worte über die Lippen gekommen waren, hätte sie sie am liebsten wieder zurückgenommen. Ein solches Verhalten taugte nicht unbedingt dazu, unauffällig zu bleiben. Sie würde sich daran gewöhnen müssen, dass sie keine Prinzessin mehr war. Sie gehörte von nun an zum gemeinen Volk und es war unerlässlich, sich entsprechend zu verhalten. Ansonsten nützte auch die Geschichte, die sie sich mit Ellinas Hilfe zurechtgelegt hatte, wenig. Sie war die Tochter eines kleinen Kaufmanns, nicht mehr und nicht weniger.
Beim nächsten Zusammentreffen mit dem Mann würde sie sich bemüht höflich geben müssen. Vielleicht war es keine
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