WELTEN-NEBEL
ein. Bei einer einfachen, aber schmackhaften Mahlzeit erfuhr Ihel, was die Frau über Liwam wusste. Er war wohl in dem Dorf geboren und aufgewachsen, doch er und seine Mutter Awija waren stets Außenseiter gewesen. Dies lag vor allem daran, dass Awija nie offenbart hatte, wer der Vater des Jungen war. In Cytria galt es als Schande, wenn eine unverheiratete Frau ein Kind hatte.
Wäre Awija nicht eine gute Heilerin gewesen, es wäre nicht sicher gewesen, ob man sie überhaupt jemals akzeptiert hätte. Bevor sie damals aufgetaucht war, schon sichtbar schwanger, hatte das Dorf keinen Heiler gehabt und so hatte niemand gewagt, sie abzuweisen. Doch Liwam hatte wohl schon als kleiner Junge gespürt, dass er anders war als die anderen Kinder. Das führte dazu, dass er stets für sich blieb und kaum Freundschaften schloss. Auch als erwachsener Mann machte er keine Anstalten, aus seiner selbst gewählten Isolation auszubrechen. Er wählte den Beruf des Jägers und streifte oft tagelang allein durch die Weiten der Ebene. Andere Männer seines Alters waren längst verheiratet, er aber lebte weiterhin bei seiner Mutter. Als diese aber starb, kehrte er dem Dorf den Rücken und wurde nie wieder gesehen. Die alte Frau meinte, dass dies wohl knapp zwanzig Jahre zurücklag.
Ihel überlegte kurz und kam zu dem Schluss, dass dies durchaus passen konnte. Wenn Liwam im Jahre 3716 sein Dorf verlassen hatte, konnte er ohne Weiteres ein Jahr später Elung erreicht haben. Um ganz sicher zu gehen, bat sie ihre Gastgeberin, Liwams Äußeres zu beschreiben. Diese musste eine ganze Weile überlegen, doch die Beschreibung, die sie dann gab, deckte sich mit jener, die Peerin ihr gegeben hatte. Der Liwam, der einst hier gelebt hatte, war ihr Vater. Doch brachte sie dies nicht weiter. „Ihr wisst nicht, wohin er damals ging, oder?“
„ Nein, aber was immer sein Ziel war, es hatte wohl etwas mit dem zu tun, was seine Mutter ihm damals kurz vor ihrem Tod anvertraut hat.“
„ Mehr könnt Ihr mir dazu nicht sagen?“
Erst schüttelte die alte Frau den Kopf, dann schwieg sie eine Weile, doch schließlich sagte sie: „Kurz bevor Liwam ging, sagte er, wer wolle seine Wurzeln suchen.“
„ Also suchte er nach seinem Vater, ebenso wie ich es tue?“
Die Frage richtete Ihel mehr an sich selbst denn an ihre Gesprächspartnerin, erhielt aber dennoch eine Antwort, ein Schulterzucken. Sie musste einsehen, dass sie von der Frau nicht mehr erfahren würde. Sie hoffte, noch einen anderen Dorfbewohner zu finden, der ihr Auskunft über Liwam geben konnten. Doch ihre Nachforschungen mussten bis zum nächsten Morgen warten, zunächst einmal würde sie das Angebot der Frau annehmen und in deren Haus übernachten.
In den nächsten Tagen sprach sie mit jedem einzelnen Dorfbewohner und mit jedem Gespräch sank ihr Mut. Niemand konnte Auskunft zu Liwams Verbleib geben. Ebenso wenig vermochte man ihr etwas über Awija zu erzählen. Es hatte ganz den Anschein, als würde Ihels Suche hier ein vorzeitiges Ende finden. Eine Leere breitete sich in ihrem Inneren aus, sie war ratlos, wusste nicht, was sie nun tun sollte. Sollte sie einfach nach Hause zurückkehren? Aber Heimat, wo war das eigentlich, in Atress oder in Elung? Das Grübeln über diese Frage machte nur allzu deutlich, dass sie die Suche nach ihrem Vater nicht aufgeben konnte. Irgendeinen Hinweis musste es doch geben. Wenn Liwam auf der Suche nach seinen Wurzeln war, so sollte sie dies vielleicht ebenfalls tun, sollte Spuren ihres Großvaters suchen, um ihren Vater zu finden. Es war bedauerlich, dass ihre Großmutter Awija nicht mehr lebte. Vermutlich war sie die Einzige, die etwas über ihren Großvater wusste. Wenn sie doch nur mehr Familie gehabt hätte als ihren Sohn.
Möglicherweise hatte sie das ja, schließlich war sie eine Zugezogene in dem Dorf. Irgendwoher musste sie gekommen sein und vielleicht lebte ihre Familie noch dort. Vielleicht wusste Awijas Familie, wer Liwams Vater war. Es war nur ein kleiner Hoffnungsschimmer, doch er reichte aus, um Ihel neuen Mut zu geben.
Noch einmal sprach sie mit den Einwohnern des Dorfes, bat um Hinweise zu Awijas Herkunft. Ein alter Mann konnte ihr letztlich doch etwas berichten. „Wenn ich mich recht entsinne, stammte Awija ursprünglich aus Aaran. Auch glaube ich, dass sie irgendetwas mit den Sechs zu tun hat.“
Ihel fragte: „Mit wem?“
„ Mit den Sechs. Ihr habt noch nie von ihnen gehört? Nun, Ihr stammt ja auch nicht aus Cytria. Hier kennt
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