WELTEN-NEBEL
ihr nicht. Sollte sie nicht besser das Schiff fertigstellen? Oder erwartete man etwa, dass sie bis dahin fertig wäre? Das konnte sie unmöglich schaffen. Die Überfahrt von Jal zum Festland wäre allerdings eine gute Möglichkeit, ihr Schiff zu testen, bevor sie damit ins Ungewisse aufbrachen. Daher hieß es, keine Zeit zu verlieren und mit dem Bau so schnell als möglich fortzufahren. Außerdem würde sie das ablenken, sodass ihr keine Gelegenheit für einen angstvollen Blick in die Zukunft bliebe.
Carlynn wusste, dass sie das Richtige getan hatte, als sie ihre Tochter allein ließ, damit diese den Inhalt des Briefes überdenken konnte. Es wäre sinnlos gewesen, sie sogleich mit ihren Ansichten dazu zu bestürmen. Darija hatte sich stets schwer getan, ihre Gefühle auszudrücken, bevor sie nicht gründlich über sie nachgedacht hatte. Wenn ihre Tochter so weit war, würde sie zu ihr kommen und mit ihr darüber sprechen.
Auch für Carlynn war die Nachricht aus Aaran ein Schock gewesen. Zwar war sie durch Yerina über die Schrift auf dem Heiligen Würfel und die Versuche der Entschlüsselung informiert gewesen. Sie hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass es sie so direkt beträfe. Ohne es zu merken, hatte sie den Weg zum Tempel von Jal eingeschlagen. Als sie vor dem Sandsteingebäude stand, zögerte sie kurz, bevor sie es betrat. Sie war sich nicht sicher, ob sie, aufgewühlt wie sie war, die richtigen Worte für ein Gebet fände. Jetzt, kurz vor Mittag, war es ruhig im Tempel. Die meisten Bewohner Jals gingen ihren täglichen Geschäften nach. Sie kniete nieder und begann, leise zu beten. Zunächst bat sie die Götter nur darum, dass sie ihre Tochter beschützten, wenn sie ihr schon eine solche Aufgabe zudachten. Dann jedoch brachen ihre Gefühle aus ihr heraus und ihr Gebet wurde eine stille Anklage. Warum mussten die Götter ausgerechnet ihr Kind auswählen? Hatten sie und Aden sich nicht schon genug um Cytrias Wohl verdient gemacht, hatten sie damals keine Opfer gebracht? Musste nun noch ihre einzige Tochter in die Fremde ziehen? Was war, wenn es diesmal nicht gut enden würde? Wenn es diesmal Darija wäre, die ihr Leben hingeben musste, wie es einst der Soldat Roji getan hatte? Wut und Verzweiflung hielten ihr Herz umklammert und Tränen liefen über ihr Gesicht. Dann aber gewann die Vernunft wieder die Oberhand. Noch war nicht einmal sicher, ob ihre Tochter wirklich auserwählt war. Und selbst wenn, dann würde ihr eine verzagte Mutter keine Hilfe sein. Sie musste ihrer Tochter eine Stütze sein und ihr Mut machen. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann ersuchte sie die Götter um Verzeihung und um Kraft. Gestärkt verließ sie den Tempel, um ihren Mann aufzusuchen. In ihrer Aufregung hatte sie bis jetzt noch nicht daran gedacht, ihm von dem Brief zu erzählen.
Es war ungewöhnlich, dass seine Frau ihn in seiner Schreibstube am Hafen aufsuchte. Für gewöhnlich ging ein jeder von ihnen tagsüber seinem Beruf nach und sie trafen erst abends wieder zusammen. Schon als sie den Raum betrat, konnte er an ihrem Gesicht ablesen, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie kannten einander inzwischen immerhin fast neunzehn Jahre. Zwar wirkte sie äußerlich gefasst, aber vor ihm konnte sie ihre innere Unruhe nicht verbergen. Er erhob sich und schloss sie wortlos in die Arme. Nach einer Weile begann sie zu erzählen. Bei Aden wich Ungläubigkeit der Sorge um seine Tochter. Er konnte verstehen, warum Carlynn so aufgewühlt war.
Behutsam schob er sie auf den Stuhl, ging vor ihr in die Hocke, umfasste ihre Hände und bat sie, noch einmal alles zu erzählen, was sie aus dem Brief erfahren hatte. Als sie geendet hat, fragte er: „Wie hat Darija es aufgenommen?“
„Du weißt doch, wie sie ist. Sie lässt sich ihre Gefühle nicht anmerken. Sie ist einfach wieder an ihre Arbeit gegangen.“
„ Wenn sie dazu bereit ist, wird sie zu uns kommen. Wir müssen ihr nur das Gefühl geben, für sie da zu sein. Wenn wir mit ihr sprechen, müssen wir versuchen, unsere eigenen Ängste beiseitezulassen. Es spielt keine Rolle, was wir selbst als Auserwählte der Götter durchgemacht haben. Schlussendlich hat sich damals ja alles zum Guten gewendet.“ Liebevoll küsste er seine Frau auf die Stirn. „Wir müssen darauf vertrauen, dass sich auch für Darija alles zum Besten entwickelt.“
Carlynn nickte und bemühte sich um ein zuversichtliches Lächeln. Wie froh sie doch war,
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