WELTEN-NEBEL
wohl gehörte? Sie drehte das Schmuckstück unschlüssig in den Händen. Die abstrakten Zeichnungen lösten eine nie gekannte Faszination und Neugier aus. Es war ihr ein Bedürfnis, den Eigentümer zu finden. Weit konnte er nicht sein. Das Armband machte nicht den Eindruck, als habe es lange im Bach gelegen. Der Besitzer musste also irgendwo am Lauf dieses Baches zu finden sein.
Sie sollte recht behalten. Sie war dem Wasserlauf noch keine halbe Stunde gefolgt, als sie eine alte Frau sah, die mit geschlossenen Augen an einen Stein gelehnt dasaß. Langsam näherte Ewen sich. Sie wollte die Frau nicht erschrecken. Was machte eine so alte Frau allein in den Bergen, ob sie sich verlaufen hatte?
Da war es wieder, dieses seltsame Summen. Ob es wohl mit der Frau zusammenhing? Neugierig ging sie noch einen Schritt auf die Alte zu.
Sie bemühte sich, Ruhe zu finden, um mit den Göttern in Kontakt zu treten. Mit geschlossenen Augen fokussierte sie sich ganz auf das Fließen ihres Atmens. Plötzlich spürte sie, wie etwas oder jemand an die Pforte ihres Geistes klopfte. Zunächst glaubte Wilka, ihr Gebet habe die Götter erreicht, doch diese Präsenz hatte so gar nichts Göttliches und Erhabenes an sich. Was mochte dies bloß sein? Die Überlegungen unterbrachen ihre Konzentration, sie öffnete die Augen und blickte um sich. Unweit stand ein Mädchen, das sie neugierig aus großen blauen Augen anblickte. Äußerlich unterschied sie sich nicht sehr von den vielen Kindern, die Wilka während ihrer Reise gesehen hatte, die Haut war blass wie bei fast allen Einwohnern Martuls und bildete kaum einen Kontrast zum hellblonden Haar. Doch dann spürte sie wieder diese Präsenz. Das Mädchen war eine Gedankenseherin! Wilka selbst verfügte über eine schwache Anlage auf diesem Gebiet, die sie erst nach jahrelangem Training hatte nutzen können. Die Gabe dieses Kindes aber war stark, noch roh wie ein ungeschliffener Stein, doch schon jetzt unverkennbar in ihrer Macht. Das musste die Erwählte der Götter sein.
Die Alte starrte sie nun schon eine ganze Weile an und Ewen musste nicht, was sie tun oder sagen sollte. Dann erinnerte sie sich an das Armband. Zaghaft streckte sie es der alten Frau entgegen und sagte: „Entschuldige die Störung. Ich fand dies etwas bachabwärts im Wasser treibend. Gehört es vielleicht dir?“
Die Frau nickte. „Hab Dank, dass du es mir zurückgebracht hast. Doch sag, wie heißt du und was machst du ganz allein hier in den Bergen?“
Für gewöhnlich war sie Fremden gegenüber eher zurückhaltend, doch zu der Alten hatte sie sofort Zutrauen. Sie erzählte ihr, dass sie von Zuhause weggelaufen war. Ehe sie es sich versah, hatte sie der Fremden auch von ihrem Kummer berichtet. Als sie geendet hatte, war jedoch jede Spur von Trübsal verschwunden. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich verstanden, obgleich die alte Frau kein Wort gesagt und nur bisweilen verstehend genickt hatte. Danach saßen sie schweigend nebeneinander und lauschten dem Murmeln des Baches.
Wilka hielt den Zeitpunkt für gekommen, das Mädchen, von dem sie zuvor nicht nur den Namen, sondern gleich die ganze Lebensgeschichte erfahren hatte, in ihre göttliche Bestimmung einzuweihen. Behutsam begann sie: „Ewen, jetzt hast du mir so viel von dir erzählt, es ist an der Zeit, dass ich dir von mir erzähle. Mein Name ist Wilka. Ein Auftrag der Götter führte mich hierher. Seit nunmehr fünfzig Jahren diene ich den Göttern als Bewahrerin. Du weißt sicher, was meine Aufgabe ist.“
„ Ja, du hütest das Wissen unseres Volkes.“
„ Das ist richtig. Nun bin ich auf der Suche nach meiner Nachfolgerin. Das heißt, ich war es. Denn ich glaube, du bist es, die die Götter ausgewählt haben.“
Als sie diese Worte sprach, beobachtete sie Ewen genau. Dies wäre jedoch nicht nötig gewesen, denn Ewens ungesteuerte Gabe sandte deutliche Signale in Wilkas Geist. Sie spürte Freude und Ungläubigkeit, Glück und Zweifel.
Es dauerte, bis Ewen ihre Sprache zurückerlangt hatte. Sollte dies wirklich wahr sein, sie und eine Erwählte der Götter? Sie musste ungläubig geschaut haben, denn Wilka versicherte ihr, dass sie es ernst meinte. Am liebsten wäre Ewen sogleich zur Einsiedelei der Bewahrerin aufgebrochen, doch diese dämpfte ihren Eifer. Zunächst mussten sie zum Tausend-Bäche-Dorf zurückkehren. Dort sollte sich Ewen von ihren Eltern verabschieden. Aus ihrer Sicht ein unnötiger Umweg, doch Wilka bestand darauf,
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