WELTEN-NEBEL
ihren Eltern vorgehalten, und obgleich sie spürte, wie sich die Wut der beiden immer weiter steigerte, hatte sie nicht innehalten können. Es geschah selten, dass sie die Beherrschung verlor, doch diesmal hatte sie die angestaute Frustration nicht zurückhalten können. Nachdem sie sich wegen ihrer Aufsässigkeit sogar eine Ohrfeige von ihrer Mutter gefangen hatte, war sie einfach davongelaufen. Sie war gelaufen, hatte erst das Dorf und dann die Felder hinter sich gelassen. Sie hatte erst angehalten, als sie die ersten Felsbrocken erreichte, die den Fuß des Gebirges säumten. Nun saß sie auf einem großen Stein, schöpfte Atem und verfluchte die Ungerechtigkeit der Welt.
Langsam aber wurde sie ruhiger. Tief atmete sie die klare Luft ein, spürte die Kühle des Steins und lauschte dem Murmeln eines nahen Baches. Sie dachte: 'Agor mag Vaters Kind sein und Kila Mutters, doch ich bin ein Kind der Berge und Bäche. Hier bin ich zu Hause.' Noch während sie diesem plötzlichen Gedanken nachspürte, wusste sie um seine tiefe Wahrheit. Sie ließ sich auf den Rücken fallen und richtete ihren Blick auf den Himmel. Eine Weile lag sie einfach nur da und beobachtete die Wolken, die träge dahinzogen.
Sie überquerte eine Hügelkuppe und plötzlich lag das Tausend-Bäche-Dorf im Licht der Morgensonne vor ihr. Sie hatte ihren Zeitplan eingehalten, heute war Erntetag, der letzte Tag ihrer Reise. Heute würde sie ihre Nachfolgerin treffen. Sie eilte sich, um das Dorf noch vor dem Mittag zu erreichen, denn noch bevor am Abend die Feierlichkeiten begann, wollte sie es wieder verlassen haben.
Ob der Festvorbereitungen war es nicht einfach für sie gewesen, sich Gehör zu verschaffen. Doch jetzt war man ihrem Wunsch nachgekommen. Nicht weniger als elf Mädchen im Alter von zehn bis vierzehn Jahren hatten sich auf dem zentralen Platz versammelt, an dem sich sonst die Dorfgemeinschaft einfand, um Gericht zu halten und Entscheidungen zu fällen. Bei solchen Zusammenkünften waren stets alle Bewohner ab vierzehn Jahren berechtigt, ihre Meinung zu verkünden und abzustimmen, unabhängig von Beruf und Geschlecht.
Langsam schritt sie die Reihe der Mädchen ab, doch bei keinem spürte sie auch nur den leisesten Anflug eines göttlichen Zeichens. Sie fragte: „Sind das wirklich alle?“
Die Antwort ließ ihr Herz stocken. Sollte es wirklich auf ganz Martul kein Mädchen geben, das geeignet war, ihre Nachfolgerin zu werden? Nie hätte sie gewagt, den Ratschluss der Götter anzuzweifeln, dennoch ängstigte sie die Vorstellung, dass es nach ihrem Tod keine Bewahrerin mehr geben sollte. Was bedeutete dies für die Zukunft Martuls? Hatte sie sich im Laufe der Reise immer noch Mut machen können, dass noch Dörfer vor ihr lagen, so konnte sie ihr Scheitern nun nur noch resigniert zur Kenntnis nehmen.
Sie war bemüht, sich ihre Sorgen und Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Das Angebot, die Nacht im Dorf zu verbringen, schlug sie aus. Sie wollte so schnell wie möglich zurück in ihr Heim. Vielleicht fand sie in den Aufzeichnungen ihrer Vorgängerinnen einen Hinweis darauf, was dies alles zu bedeuten hatte.
Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, während sie in Gedanken ihre Reise Revue passieren ließ. Hatte sie etwas übersehen, waren ihre die göttlichen Zeichen entgangen, die eines der Mädchen als ihre Nachfolgerin kennzeichneten?
Sie erklomm die ersten Steigungen der Bergkette und spürte ihr Alter dabei wie nie zuvor. Jeder Schritt fiel ihr plötzlich unendlich schwer. Obgleich es erst Nachmittag war, beschloss sie, ihr Nachtlager aufzuschlagen.
Sie legte ihr Reisebündel ab und beugte sich über einen kleinen Bach, um sich zu erfrischen. Als sie ihre Hand in das klare kühle Nass tauchte, löste sich eines ihrer Armbänder und wurde vom Wasser davongetragen.
Irgendetwas hatte sich verändert. Ewen glaubte, ein Summen zu vernehmen, doch sie konnte die Quelle nicht ausmachen. Sie erhob sich von dem Stein und blickte sich suchend um. Das Summen wurde stärker und sie verspürte Verunsicherung und Sorge. Doch es waren keine Gefühle, die von ihr ausgingen. Um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, kniete sie am nahen Bach nieder und benetzte ihr Gesicht mit Wasser. Die seltsamen Empfindungen ließen nach. Doch was war das? Der Bach führte ein eher ungewöhnliches Treibgut mit sich. Sie griff danach und hielt ein Armband in den Händen. Es war aus Leder gefertigt und mit kunstvollen Brandzeichen verziert. Wem es
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