WELTEN-NEBEL
es war Bestandteil des Auswahlprozesses.
Obgleich es schon dunkel wurde, machten sie sich auf den Weg. Ewen trug Wilkas Bündel. Die Feuer des Erntefestes waren weit zu sehen, sodass sie nicht Gefahr liefen, im Dunklen fehlzugehen. Als sie schließlich das Dorf erreichten, nahm niemand Notiz von ihnen. Alle waren berauscht von dem offenbar reichlich geflossenen Alkohol. Es gelang Ewen nicht, ihre Eltern in dem Getümmel ausfindig zu machen, also führte sie Wilka in das elterliche Haus und richtete ihre eigene Schlafkammer für sie her. Sie selbst suchte sich einen Platz im Speicher auf dem frischen Heu.
Der Schlaf aber wollte sich nicht einstellen, es gab zu viel, worüber sie nachdenken musste. Wilka hatte ihr auf dem Weg schon einiges über die Aufgabe der Bewahrerin berichtet und auch die Härten eines Lebens in Abgeschiedenheit nicht verhehlt. Doch diese bereiteten Ewen kein Kopfzerbrechen. Es war vielmehr die Aufregung, die sie nicht schlafen ließ. Wilka war ihr von Anfang an sympathisch gewesen und sie freute sich darauf, zukünftig bei der alten Frau zu leben. Ihr war es, als verbände sie mehr mit dieser eigentlich Fremden als mit ihrer eigenen Familie. Es würde ihr keineswegs schwerfallen, ihre Eltern und Geschwister zurückzulassen. Auch die anderen Kinder des Dorfes würde sie nicht vermissen. Während der vier Jahre, die sie mit ihnen gemeinsam in die Dorfschule gegangen war, hatten sich allenfalls lose Freundschaften entwickelt, die jetzt, nur neun Monde nach Verlassen der Schule schon wieder in Auflösung begriffen waren. Die Vorstellung, eine Auserwählte der Götter zu sein, ließ all dies noch bedeutungsloser erscheinen.
Noch wusste sie nicht genau, was von ihr als zukünftige Bewahrerin erwartet werden würde, Wilka hatte sich noch nicht so konkret geäußert, doch sie wusste, dass es eine große Menge Wissen zu erlernen gab, von dem der Rest der Bevölkerung nichts ahnte.
Über ihre Grübeleien schlief sie schließlich ein.
Am Morgen wollte sie gerade die Küche betreten, als sie Wilkas und die Stimme ihrer Mutter aus dem Raum vernahm. Obgleich sie wusste, dass Lauschen sich nicht gehörte, blieb sie im Schatten des Türrahmens stehen. Sie wagte einen Blick in den Raum. Auch ihr Vater war anwesend. Soeben hatte Wilka das Wort ergriffen: „Als ich euer Dorf gestern besuchte, habt ihr die Abwesenheit eurer Tochter noch nicht einmal bemerkt oder sie für nicht erwähnenswert gehalten. Nun aber wollt ihr mir erzählen, wie sehr ihr sie liebt und wie ungern ihr sie ziehen lassen wollt. Was gedenkt ihr damit zu bezwecken? Wünscht ihr Gefälligkeiten meinerseits oder vonseiten der Götter im Austausch für eure Tochter?“
Ewens Mutter ergriff das Wort: „Nun, natürlich haben wir dies nicht erwartet. Es ist schon Ehre genug, wenn unsere Tochter Bewahrerin wird. Doch du musst wissen, dass es nicht leicht sein wird, unseren Hof ohne ihre Hilfe zu führen. Daher käme ein göttlicher Segen für Haus und Hof gerade zur rechten Zeit.“
Obgleich Ewen Wilkas Gesicht nicht sehen konnte, vermochte sie, ihre Wut zu spüren. Die Stimme der Bewahrerin klang plötzlich laut und ehrfurchtsgebietend: „Was glaubt ihr, wer ihr seid, dass ihr göttliche Gnade verdient habt? Dass eure Tochter als meine Nachfolgerin geeignet ist, ist mitnichten euer Verdienst. Wagt es nicht, eine Gegenleistung für ihren Weggang zu fordern.“
Zerknirschtheit spiegelte sich in den Gesichtern ihrer Eltern, als diese eilfertig nickten. Wilka sprach erneut: „Wenn ihr euch später von Ewen verabschiedet, so verhaltet euch anständig. Wünscht ihr alles Gute und lasst sie ziehen.“
Erneut nickten ihre Eltern und Ewen hielt den Zeitpunkt für geeignet, aus ihrem Versteck zu treten. Was sie gesehen und gehört hatte, war nicht überraschend gewesen. Wobei, die Dreistigkeit, die Bewahrerin um eine Entschädigung für sie zu bitte, hatte sie selbst ihren Eltern nicht zugetraut.
Ewens Anwesenheit war ihr bewusst, ihre Präsenz war deutlich zu spüren, doch sie sah keinen Anlass, sich nicht mit harschen Worten an die Eltern zu wenden. Das Mädchen wusste um die Natur ihrer Beziehung zu ihnen und das, was sie eventuell zu sehen und zu hören bekäme, würde sie nicht überraschen. Möglicherweise wäre es sogar heilsam für das Mädchen, wenn ihre Eltern einmal ihr Verhalten vor Augen geführt bekämen.
Obgleich die Spannung im Raum beinahe greifbar war, gelang es ihr, sich vollkommen unbekümmert zu geben.
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