Welten - Roman
Ängste, Erfolge und Enttäuschungen. All dies scheint präsent und korrekt (wenngleich ein wenig vage, vielleicht
aufgrund der Durchschnittlichkeit). Doch alles recht unspektakulär. Eintönig, alltäglich, langweilig.
Erst danach begann mein wahres Leben, wie ich es bezeichne: der Eintritt in die vielen Welten und die Expédience, mein Umgang mit Personen und Ereignissen, die alles andere waren als gewöhnlich. Damals wurde ich zu einem neuen Menschen, wenngleich ich im Moment vorübergehend nur sein blasses Abbild bin.
Und ich werde mich wieder in diesen Menschen verwandeln. Das weiß ich.
Doch nun begreifst du sicher, warum ich mir Sorgen mache. Du, als möglicher Teil, als ein mögliches künftiges Selbst von mir.
DER WELTENWECHSLER
Habe ich getan, was ich glaube? Sicher nicht. Wenn ja, wäre ich der Erste. (Oder auch nicht. Vielleicht passiert es ständig, aber sie halten es geheim. Schließlich haben wir es hier mit dem Konzern zu tun. Da ist Geheimhaltung die Regel. Aber gäbe es dann gar keine Gerüchte?)
Kann es sein, dass ich ohne Septus gesprungen bin? Eigentlich dürfte das nicht möglich sein. Man braucht Septus, die Droge ist absolut unentbehrlich, obgleich allein nicht völlig ausreichend, wenn ein Mensch von einer Realität in die andere wechseln will. Ich hatte nichts mehr von dem Zeug. Die Notration im Zahn hatten sie entfernt und den Zahn gleich noch dazu. Ich war bewusstlos, aber es muss passiert sein, denn der Zahn war weg.
Oder ich habe die Pille in einem wachen Moment geschluckt
- zwischen dem Schlag ins Gesicht im Flugzeug und dem Aufwachen auf dem Stuhl im Verhörraum -, an den ich mich nicht mehr erinnere. Oder sie ist mir zufällig in die Kehle gerutscht, als sie auf mich einprügelten. Durch den Fausthieb ins Gesicht kann sie sich leicht gelöst haben, und ich habe sie geschluckt, ohne dass sie es merkten. Sie hätten schon ein riesiges Gerät wie einen Kernspintomografen gebraucht, um die Tablette in meinem Körper aufzuspüren. Selbst wenn sie den hohlen Zahn also entdeckt haben …
Aber sie sagten doch, dass sie den hohlen Zahn gefunden und die Pille entfernt haben. Warum sollten sie mir was vorlügen? Das wäre doch sinnlos. Und weshalb dieser katzenjammerartige Zustand? In den ersten Sekunden wusste ich nicht einmal, wer ich war, und auch jetzt habe ich noch Kopfschmerzen. So etwas habe ich noch nie erlebt, nicht einmal in der Grundausbildung.
Trotzdem, auch wenn nicht alle Teile zusammenpassen, ist es eine weitaus plausiblere Erklärung als die Hypothese eines septusfreien Sprungs. Ich muss bei der Deutung bleiben, dass ich die Pille aus Versehen geschluckt habe. Wieder einmal Glück gehabt, wie so oft.
Wie auch immer: Ich bin nackt und kann mich so nicht vor der Außenwelt präsentieren. Also muss ich erst einmal Kleider auftreiben. Als ich zum Ausgang des großen Ballsaals tappe, probiere ich die Lichtschalter, aber es tut sich nichts. Vor der großen Doppeltür zum Vorraum verharre ich, um auf Geräusche zu lauschen, die darauf hindeuten könnten, dass ich mich nicht allein im Palazzo Chirezzia befinde. Still wie in einem Grab. Zitternd durchquere ich den Vorraum und den angrenzenden Gang und steuere auf die Haupttreppe zu. Die kühle Luft bedrängt mich mit
einer Aura geisterhafter Verlassenheit: überall zusammengerollte Teppiche, abgedeckte Möbel, düsteres Licht, abgestandener Geruch.
Ich versuche es in einem großen Schlafzimmer im ersten Stock, aber die Kleiderschränke in der Garderobe sind leer bis auf Mottenkugeln, die zwischen verknittertem Papier liegen oder träge in Schubladen herumrollen. Trotz der geschlossenen Läden ist mein Spiegelbild zu erkennen. Wieder einmal ein unauffälliger Mann von mittlerer Statur, wenngleich relativ muskulös.
In einem Schrank im zweiten Stock finden sich mehrere Kleidungsstücke, manche davon vielleicht sogar in meiner Größe, aber sie kommen mir uralt vor. Ich trete ans Fenster und öffne die Läden einen Spalt, um hinauszuspähen. Die Gewänder der Leute auf der Calle neben dem Palast wirken farbenprächtig, ziemlich eng anliegend und relativ heterogen.
Ich vermute, dass ich mich in einer einigermaßen normalen dekadent christlichen, hochkapitalistischen Realität des späten zwanzigsten oder frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts befinde - einer Gierwelt, wie es umgangssprachlich heißt. Das Fragre fühlt sich auf jeden Fall richtig an. Wahrscheinlich dieselbe Erde wie bei meiner Begegnung mit der kleinen
Weitere Kostenlose Bücher