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Welten - Roman

Titel: Welten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Bett für eine der Puppen und deute zweimal von ihr zu mir, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Hier liege ich im Bett. Sogar einen Schlafenden mime ich. Dann stelle ich mit der zweiten Puppe dar, wie jemand in mein Zimmer kommt und an mein Bett tritt. Erst jetzt fällt mir ein, dass ich gar nicht hundertprozentig weiß, welches Geschlecht der Eindringling hatte. Ich konnte ihn nicht deutlich sehen, und auch an der Berührung der Hand oder dem Geruch war nicht eindeutig zu erkennen, dass es tatsächlich ein Mann war. Ich bin einfach davon ausgegangen.

    Ich führe vor, wie die zweite männliche Puppe die Hand ausstreckt, die erste kurz an den Genitalien berührt und erschrocken die Flucht ergreift, als diese schreiend hochfährt. Dann lege ich die zweite Puppe auf den Schreibtisch und breite die Arme aus, um der Ärztin zu verstehen zu geben, dass die kleine Darbietung vorbei ist.
    Nachdenklich sitzt die stämmige Doktorin da und gibt erneut beschwichtigende Laute von sich. Ich greife wieder nach der zweiten Puppe und setze sie mir mit überschlagenen Beinen aufs Knie.
    Ich habe den Eindruck, dass die Ärztin meine Version der Ereignisse anzweifelt, habe aber keine Ahnung, wie sie dazu kommt. Gibt es einen anderen Bericht, der meinem widerspricht? Sollte tatsächlich jemand die Dreistigkeit haben, Lügen über mich auszustreuen?
    Ich nehme die Puppe auf meinem Schoß in beide Hände. Sagt die Ärztin tatsächlich, was ich zu hören glaube? Behauptet sie wirklich, dass es nicht so passiert sein kann, wie ich es geschildert habe? Wie kann sie es wagen? Für wen hält sich diese Person überhaupt? Sie war doch nicht dabei! Ich hatte gehofft, dass man mir zumindest glaubt. Denkt sie wirklich, dass ich mir die Mühe machen würde, so etwas zu erfinden? Erst ein sexueller Übergriff und jetzt noch diese Ungerechtigkeit! Ich spüre, wie sich meine Hände zu Fäusten ballen.
    Plötzlich entsteht über unseren Köpfen Unruhe. Laute Rufe, mehrfach ein kurzes Trampeln, dann ein langes, schweres Poltern. Erneut Schreie in der Ferne. Es ist ein warmer Tag, und das Fenster im Büro der Ärztin steht halb offen. Draußen zwitschern die Vögel, und die Blätter rascheln im Wind. Aber ich höre auch Rufe von oben.
    Sind Sie sicher, dass eine andere Person das getan hat?
So interpretiere ich ihre Frage. Ich nicke und antworte mit einigem Nachdruck: »Ja!« Über unseren Köpfen setzt eine Alarmglocke ein, und ich höre rennende Schritte. Die Ärztin scheint gar nicht darauf zu achten.
    »Sie wissen nicht, wer es war?«
    »Nein«, erwidere ich, »ich weiß es nicht!«
    »Vielleicht haben Sie nur geträumt.«
    »Ich habe nicht geträumt! Es ist passiert!«
    »Aber Sie wissen nicht, wer es war?«
    »Nein, nein! Wie oft noch? Nein!«
    »Oder wer es gewesen sein könnte?«
    »Jeder. Jeder könnte es gewesen sein.«
    »Kein Pfleger«, setzt sie an, den Rest verstehe ich nicht. Vielleicht geht es um Pflichten, was ja passen würde.
    »Kein Pfleger«, stimme ich zu. (Oben rumort es weiter.)
    Der Blick der vierschrötigen Ärztin fällt auf die Puppe in meinen Händen. Ich halte sie fest umklammert und drücke ihre Brust zusammen, als wollte ich ihr die Lunge zuschnüren. Sanft aber bestimmt nimmt sie sie mir ab und setzt sie neben die andere, die noch auf der Taschentuchbox liegt.
    Oben hört das rhythmische Stampfen auf, und schwacher Jubel erklingt.
    »Die Puppe hat (irgendwas irgendwas)«, bemerkt die Ärztin.
    »Was?«, frage ich.
    Über unseren Köpfen ist ein Scharren zu hören, vielleicht Stuhlbeine auf dem Holzboden im Aufenthaltsraum. Wird da geklatscht?
    Die Puppe, die ich auf dem Schoß hatte, rutscht von der Schreibtischkante und plumpst auf den Boden. Von draußen ertönt ein Kreischen, und ein weiß gekleideter Körper
stürzt am Fenster vorbei. Mit einem dumpfen Geräusch und einem schrillen Schmerzensschrei landet er auf dem Boden. Ich habe das Gefühl, diesen Schmerz am eigenen Leib zu spüren. Zitternd mache ich die Augen halb zu. Im Zimmer wird es auf einmal finster.
    Die Ärztin scheint sich horizontal von mir zu entfernen, während das Büro um mich herum in einem Nebel versinkt, der sich von den Rändern zur Wand hinter dem Schreibtisch und dem Schreibtisch selbst ausdehnt, bis als unbestimmter Punkt irgendwo in der Ferne nur noch die Ärztin übrig ist, die entsetzt zum Fenster eilt.
    Mir wird schwarz vor Augen. Es ist, als würde ich durch ein langes, dunkles Rohr in die Tiefe stürzen, fort von allem, bis

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