Welten - Roman
Mesopotamiens.
ZWÖLF
PATIENT 8262
Irgendwie habe ich mich dem Klinikpersonal wohl verständlich gemacht. Anfangs ließ ich nur Dampf ab vor dem Pfleger, der grummelnd ankam, um herauszufinden, warum ich mitten in der Nacht so herumschrie. Der Bursche sah aus, als wäre er gerade aufgewacht, obwohl er während seiner Schicht natürlich hellwach sein musste.
Offenbar begriff er kein Wort von meinen Tiraden, aber das erwartete ich auch gar nicht, weil ich in meiner eigenen Sprache redete. Zwischen wiederholtem Gähnen gab er beschwichtigende Laute von sich und richtete mein Bettzeug her. Dann tätschelte er mir den Arm, fühlte meinen Puls und legte mir die Hand auf die Stirn. Nachdem er etwas in meine Akte eingetragen hatte, verschwand er schließlich.
Ich war noch längere Zeit wach, weil mein Herz so schnell schlug, und forderte den Perversen, der sich an mir hatte vergreifen wollen, im Geiste heraus zurückzukommen - ich habe nämlich eine Waffe, die ich benutzen kann. Irgendwann schlief ich dann wohl ein und erwachte später als üblich - das Frühstück wurde bereits serviert.
Später am Vormittag ist eine Assistenzärztin erschienen und hat mich langsam in der Landessprache gefragt, was mich in der Nacht aufgeschreckt hat. So gut ich es mit meinem rudimentären Vokabular vermochte, habe ich ihr berichtet, was geschehen oder vielmehr fast geschehen ist, und sie hat sich Notizen gemacht.
Nach dem Mittagessen kommt eine andere Ärztin, die ich noch nie gesehen habe. Eine stämmige, vierschrötige
Frau mit einer nüchternen Brille und blond gebleichtem, zu einem Knoten zusammengebundenem Haar, aus dem mehrere gekräuselte Strähnen entwischt sind. Im flutenden Nachmittagslicht wirken sie wie Sonneneruptionen.
Sie behandelt mich wie einen Idioten. Mit ganz langsamer und sorgfältiger Aussprache fragt sie mich, ob mir etwas Schlimmes zugestoßen ist. Zumindest bin ich mir ziemlich sicher, dass sie das meint, und so nicke ich bejahend. Sie fragt mich, ob ich mit ihr kommen möchte, damit wir an einem anderen Ort darüber reden können. Ich versuche, ihr klarzumachen, dass es mir hier, in der Geborgenheit meines Zimmers lieber ist, aber sie zieht ein besorgtes Gesicht und unterbricht meine stockenden Versuche in ihrer Sprache mit der Aufforderung, sie in ihr Büro zu begleiten.
Ich wehre mich gegen dieses Ansinnen, doch sie ruft einen Wärter, und trotz meiner Proteste, dass dies im Grunde wieder ein Übergriff ist, werde ich in einen Rollstuhl verfrachtet und in einem großen, gefährlich ächzenden Aufzug ein Stockwerk tiefer ins Erdgeschoss gefahren. Schließlich erreichen wir ein Zimmer, das vermutlich ihr Büro ist und - falls mich mein Orientierungssinn nicht im Stich lässt - unmittelbar unter dem Aufenthaltsraum liegt, wo sich um diese Zeit bestimmt die üblichen sabbernden Besucher mit hängendem Kiefer und Inkontinenzeinlagen eingefunden haben, um sich über die Wahl des Nachmittagsprogramms im Fernsehen zu streiten.
Nachdem sie sich bei dem Wärter bedankt hat, macht sie hinter sich die Tür zu. Lächelnd und mit beruhigenden Worten schiebt sie mich neben den Schreibtisch und rückt ihren Stuhl so hin, dass wir ganz nahe voreinander sitzen. Aus einer Schublade nimmt sie zwei Puppen, die aus annähernd fleischfarbener Wolle gestrickt sind. Eine ist wie ein
Mädchen, die andere wie ein Junge angezogen, und beide haben ausdruckslose Gesichter. Aus irgendeinem Grund reicht sie mir die Mädchenpuppe und möchte offenbar, dass ich ihr damit zeige, wo mich der gemeine Eindringling in der vergangenen Nacht berührt hat.
Seufzend hebe ich den Rock der Mädchenpuppe - wenigstens ist sie nicht auf peinliche Weise anatomisch korrekt, sondern deutet das weibliche Geschlecht nur mit einem aufgestickten Stich an - und deute auf den Schritt. Sie hebt die männliche Puppe hoch und fragt, ob ich sie ebenfalls will. Auf mein Nicken hin überlässt sie sie mir. Auch an dieser Puppe demonstriere ich, wo ich berührt wurde. Sie wirkt verwirrt und lehnt sich vor, als wollte sie die Puppen nehmen, um mir zu zeigen, was ihrer Meinung nach geschehen sein muss. Doch sie hält in ihrer Bewegung inne. Ich treffe Anstalten, ihr an den zwei Puppen vorzuführen, was vorgefallen ist. Dann frage ich - genauso langsam, wie sie mit mir geredet hat -, ob sie noch eine andere Jungenpuppe hat. Zögernd tauscht sie die weibliche gegen eine weitere männliche Puppe aus.
Ich benutze eine Taschentuchbox auf dem Schreibtisch als eine Art
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