Welten - Roman
ich neuerdings Gesichter auf der Straße, in Parks oder in Geschäften, die ich zuletzt als tränenüberströmte, schmerzverzerrte, schreiende oder von hervorquellenden Augen beherrschte Fratzen erblickt hatte.
So ging ich in letzter Zeit nur noch wenig aus. Ich lud Bekannte zu mir ein und ließ mir Lebensmittel liefern.
Wir betraten das Terminal. Ich fand den durchdringenden Blick der ausdruckslosen Grenzpolizisten und Soldaten ausgesprochen beruhigend. Diese Burschen konnte keiner überrumpeln, um ihnen die Waffen zu stehlen. Eine Familie direkt vor uns wurde zur Gepäcküberprüfung beiseitegewinkt.
Als das langwierige und mühselige Check-in vorbei war, gingen wir zur Bar. Nach dieser Prozedur brauchte ich dringend einen ordentlichen Drink, außerdem machte mich Fliegen leicht nervös. Wir hielten uns eine halbe Stunde dort auf, bevor wir daran dachten, zur Sicherheitsabsperrung zurückzukehren. Ich hatte drei oder vier Gläser
getrunken, während meine Verlobte noch immer bei ihrem ersten war.
Vor der Absperrung stand eine lange Schlange. Nach den letzten internen Mitteilungen der Sicherheitsdienste zur Bedrohungslage hatte ich damit schon gerechnet und dies in unserem Zeitplan berücksichtigt.
So schlurften wir langsam voran. Ich versuchte Zeitung zu lesen. Neben der Schlange patroullierten Polizisten und Soldaten und sahen sich die Leute an. Ich hatte Angst,Verdacht zu erregen, weil ich so angestrengt die Zeitung vor mich hielt und so stark schwitzte. Mir fielen einige psychologische und physiologische Parameter ein, die nur allzu gut auf mich passten.
Ich senkte die Zeitung und schaute mich um, um normal und unbedrohlich zu wirken. Wenigstens konnte ich mich mit dem Gedanken beruhigen, dass meine Papiere und vor allem der Ausweis der Spezialpolizei jeden Verdacht sofort entkräften und zweifellos sogar zu einer Entschuldigung führen würden. Immer noch zog sich die Schlange zwanzig Meter vor uns hin. Nur an zwei von drei Schaltern wurden Pässe gescannt und Tickets überprüft, bevor die Leute den Hauptsicherheitsbereich betreten durften, wo sie noch ihr Handgepäck durchleuchten und von Hunden beschnüffeln lassen mussten.
Die farbige Familie zwei Meter vor uns konnte sich wahrscheinlich auf besondere Aufmerksamkeit einstellen. Unmittelbar vor ihnen trug ein junger Mann einen Seesack, den er sicherlich nur mit Glück als Handgepäck mitnehmen konnte. Nach seiner Uniform zu urteilen ein Armeerekrut, aber trotzdem.Wieder schlurften wir ein Stück weiter.
Meine Verlobte nahm meine Hand und drückte sie. Sie lächelte mir zu.
Besonders verstörend empfand ich in jüngster Zeit Regungen in mir,die an Verrat grenzten.Ich war zu dem Schluss gelangt,dass die christlichen Terroristen nicht ganz unrecht hatten, dass alle Terroristen nicht ganz Unrecht hatten. Trotzdem war ihr Handeln falsch und böse,und sie mussten mit allen Mitteln bekämpft werden, die einer Gesellschaft zur Verfügung standen, auch mit Notfallmaßnahmen, doch irgendwie geisterte mir seit kurzem eine Frage durch den Kopf: Waren wir wirklich besser? Dies führte ich auf die deprimierende Erkenntnis zurück, dass die Menschen alle gleich waren. Alle bluteten,brannten,bettelten,schrien und reagierten auf die gleiche Weise. Ob schuldig oder unschuldig, der Unterschied war unwesentlich. Das galt auch für Rasse und Geschlecht. Waren die christlichen Terroristen wirklich fanatischer als die Extremisten »unserer« Seite, die Brandbomben auf ihre Versammlungen warfen oder auf fernen Bauernhöfen ganze Familien kreuzigten?
Christen waren genauso ihrem Kulturkreis sowie ihren Familien und Freunden verhaftet wie alle anderen Leute auch. Fast ohne Ausnahme waren wir Menschen schwach und unaufrichtig, grausam und egoistisch, ehrlos und verzweifelt darauf bedacht, Schmerz, Folter, Gefangenschaft und Tod zu vermeiden, selbst wenn dies bedeutete, andere zu beschuldigen, obwohl uns ihre Unschuld bekannt war.
Und das war der springende Punkt.Wir waren alle gleich.
Es existierte kein Unterschied. Bei bestimmten Handlungen gegen uns reagierten wir auf die gleiche Weise - das hatte ich selbst viele tausend Male beobachten können. Was hatte die christlichen Terroristen in ihren wahnsinnigen Fanatismus und zu diesen entsetzlichen Taten getrieben? In jeder Gesellschaft, jeder größeren Gruppe, jedem bedeutenden Credo gab es Kreise von Menschen, die dem
Druck nicht standhielten und sich Gewalt und Extremismus zuwandten. Aber wodurch war dieser Druck
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