Welten - Roman
überhaupt entstanden? Wer hatte ihn erzeugt?
Und hätten sich die gewöhnlichen, anständigen Leute, die Beamten der Sicherheitsdienste und auch meiner Abteilung anders verhalten, wenn sie zum Beispiel bei der Geburt vertauscht worden wären?
Ich hatte noch immer die Gewissheit, dass wir richtig handelten, doch diese Fragen machten mir sehr zu schaffen.
An der Spitze unserer langsam schlurfenden Schlange, zwischen den zwei offenen Schaltern stand eine hüfthohe, durchsichtige Plastiktonne, in der alle Messer, Pinzetten,Taschenmesser, Metallzahnstocher und andere scharfe oder spitze Gegenstände landeten, die zerstreuten oder achtlosen Personen abgenommen wurden, die die einschlägigen Vorschriften nicht kannten. Der Behälter war schon fast voll. Ich fragte mich, ob man den Inhalt weiterverkaufen, einschmelzen oder wegwerfen würde.
Ungefähr fünf Meter vor der Tonne löste sich der junge Rekrut aus der Schlange und winkte dem überraschten Grenzbeamten zu, der die Pässe prüfte. Der junge Bursche machte eine Bemerkung, die nicht zornig oder frustriert klang, sondern eher amüsiert und witzig. Ich stellte mir vor, dass er vielleicht Gefahr lief, seinen Flug zu verpassen und seinen Dienst nicht rechtzeitig antreten zu können, wenn man ihn nicht vorließ. Ich blickte über die Schulter. Der nächste Polizist hinter uns schüttelte den Kopf und steuerte auf die Schalter zu, wo der junge Mann die durchsichtige Tonne erreicht hatte und sich direkt an den Grenzbeamten wandte. Nachdem er seinen schwer aussehenden Seesack abgestellt hatte, streckte er sich und legte dabei die Hände in den Nacken, fast wie eine Parodie auf die Haltung, zu
der ihn der näherkommende Polizist gleich auffordern würde, wenn er weiter darauf beharrte, vor den anderen durchgelassen zu werden. Einige Leute um mich herum gaben missbilligende Laute von sich.
Der schwere Seesack lag direkt hinter der großen Tonne voller Metallgegenstände.
Bis auf den heutigen Tag weiß ich nicht, was mich zu meiner Reaktion veranlasste. Ich wollte schreien, erkannte aber schlagartig, dass keine Zeit mehr blieb. So riss ich meine Verlobte zu Boden und versuchte, mich schützend über sie zu werfen.
An mehr kann ich mich nicht erinnern.
Der junge Rekrut war ein christlicher Terrorist, ein Selbstmordattentäter. In dem Seesack befand sich ein Sprengsatz. Dieser war größer, als es normalerweise möglich gewesen wäre, weil er keine Schrapnellfüllung benötigte. Die durchsichtige Tonne enthielt genügend scharfe Gegenstände.
Achtunddreißig Menschen verloren ihr Leben, der Attentäter nicht mitgerechnet. Beide Grenzbeamten und auch der Polizist, der nachsehen wollte, was vor sich ging, wurden zerfetzt. Alle Leute vor uns in der Schlange waren sofort oder innerhalb weniger Sekunden tot, bis auf ein Baby, das in einer Rucksacktrage schlief. Auch bis zu drei oder vier Meter hinter uns starben fast alle. Meine Verlobte lebte noch fünf Tage. Ungefähr genauso lang schwebte ich in Lebensgefahr, und danach befand ich mich noch einen Monat auf der Intensivstation. Ich hatte das linke Auge und das linke Bein verloren, und beide Trommelfelle waren zerrissen worden.
Als besonders tragisch und entmutigend empfand ich, dass der junge Attentäter keinen echten Soldaten ermordet hatte, um an die Uniform zu gelangen, und diese auch nicht
gestohlen hatte. Er war tatsächlich ein Armeerekrut, der aus einer wohlhabenden, angesehenen Familie von unzweifelhafter Staatstreue stammte und alle Auslesephasen und psychologischen Tests mit Bravour bestanden hatte. Erst wenige Monate vorher war er insgeheim zum Christentum übergetreten. Als ich das erfuhr, versank ich in einer schwarzen Nacht der Verzweiflung, und dabei war ich schon davor nicht unbedingt in bester Stimmung gewesen.
Zwei Wochen nach Verlassen der Intensivstation lag ich in einem Privatzimmer im Krankenhaus und litt noch immer unter Schmerzen. Während ich vor mich hin döste, erhielt ich Besuch von einer Dame. Einer kleinen, vollbusigen Dame, attraktiv, gut gekleidet und stark parfümiert. Ich kannte sie nicht und fragte mich - ein wenig benommen wegen der Schmerzmittel -, ob sie vielleicht eine meiner ehemaligen Gefangenen war, die gekommen war, um es mir heimzuzahlen. Sie griff nach meinem Handgelenk, als wollte sie nach meinem Puls tasten, dann schloss sie die Finger darum wie ein Armband. Und bevor ich noch einmal Luft holen konnte, war ich an einem anderen Ort.
DER WELTENWECHSLER
Mein neuer Freund
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