Welten - Roman
Adrian meint, dass er persönlich anwesend sein muss, um mir wirklich helfen zu können, und ist schon unterwegs. Aber es wird fast bis zum Abend dauern, bis er eintrifft.
Eine Zeit lang streife ich durch den menschenleeren Palast. Ich bin gefangen in diesem Luxus und den endlosen Hallen, da ich sie nicht verlassen und auch sonst
meine Gegenwart nicht verraten möchte, falls das Gebäude unter Beobachtung steht. Doch trotz dieses Gefühls von Eingeschlossensein und der unerfreulichen Aussicht, in den nächsten fünf oder sechs Stunden ein unbewegliches Ziel zu bieten, fühle ich mich hier sicher. Im Erdgeschoss bleibe ich vor einem Tiefkühlraum stehen. Er ist abgeschaltet, dunkel, trocken, und die offene Tür ist mit einer eingeschweißten Kiste Coca-Cola festgeklemmt. Mit einem Schauer erinnere ich mich an meinen letzten Aufenthalt hier, als es schneite und ich meiner kleinen Piratenkapitänin begegnete, und an das erste Mal, dass ich das besondere Fragre dieser Welt wahrnahm.
Zu Beginn dieses ersten Besuchs, als mir dieser Ort bis auf einen undeutlichen Hauch seiner wahren Essenz noch völlig fremd war, hätte ich meinen Hals darauf verwettet, dass das hier eine Gierwelt war, in der das hemmungslose Streben nach Geld und materiellem Reichtum angepriesen und sogar verehrt wurde. Natürlich nicht in Form eines ursprünglichen Glaubensakts, denn wir benötigen immer eine weiterreichende Rechtfertigung. Eher zufällig also. Am Ende einer Straße, die ausschließlich aus guten Vorsätzen errichtet wurde, wartet der Untergang, der Teufel steckt im Detail, und im Kleingedruckten wartet schon die Hölle.
Ich beanspruche keine moralische Überlegenheit. Menschen wie ich gewinnen größere Klarheit als die meisten anderen, weil wir das Privileg genießen, viele Beispiele eines solchen Verhaltens in den verschiedensten Welten zu erleben, und nicht etwa, weil wir von Natur aus klüger und moralisch edler sind. Auch ich muss mich damit abfinden, dass es eben die Details sind, der Wirrwarr und Trubel der Existenz, aus dem das Verhängnis entsteht wie eine alles überrollende Monsterwelle aus dem Chaos des Ozeans.
Eines Tages werde auch ich diesen Details zum Opfer fallen.
Nicht anders als beim Sozialismus oder überhaupt jedem -ismus kennt auch der Kapitalismus viele Spielarten. Doch einer der größten Unterschiede, der eigentlich nur auf einem winzigen Detail beruht, zwischen ganzen Gruppen vollkommen kapitalistischer Gesellschaften liegt darin, ob der Handel von Privatfirmen und Personengesellschaften beherrscht wird oder von Aktiengesellschaften.
Ich will mich hier nicht als Fachmann für Wirtschaft aufspielen, aber nach dem, was ich im Lauf der Jahre aufgeschnappt habe, kommt der Erfindung und Verbreitung der Aktiengesellschaft große Bedeutung zu. In diesem Rahmen können Leute mit Geldern, die ihnen nicht gehören, große Risiken eingehen, ohne bei einem Misserfolg für die Schulden haften zu müssen, weil das Unternehmen juristisch als Person begriffen wird, deren Schulden mit ihrem Ableben verfallen.
Das Ganze ist eine völlig unsinnige Konstruktion, und ich habe mich schon oft gefragt, wie irgendein Gesetzgeber solche Fantasien rechtlich absegnen kann. Aber das war nur meine Naivität, ehe ich einsah, dass es schon seinen Grund hatte, wenn all die ehrgeizigen, mächtigen Herrschaften in den verschiedenen gesetzgeberischen Gremien diesen verblasenen Humbug für eine gute Idee hielten.
Auf jeden Fall entwickeln sich Welten, auf denen Aktiengesellschaften mit Haftungsbeschränkung das Sagen haben, häufig schneller, aber dafür auch weniger reibungslos und zuverlässig, und steuern manchmal sogar direkt in die Katastrophe. Nachdem ich mich genauer damit befasst habe, denke ich, dass es sich einfach nicht lohnt. Doch so etwas kann man natürlich keinem erzählen, der in diesem
verführerischen Wahn befangen ist. Solche Menschen handeln in gutem Glauben und können sich im Notfall immer auf das Wirken der unsichtbaren Hand verlassen.
Ich kicke die Coca-Cola-Kiste weg, und die Kühlraumtür fällt dröhnend zu.
Im Palazzo gibt es eine großzügig bemessene Küche. Auch hier funktioniert kein Strom oder eine andere Energiequelle. Aber die Schubladen sind voller Besteck und die Schränke voller Konservendosen. So speise ich bei Kerzenlicht kalte Erbsen.
Als ich gerade anfange, mich ein wenig zu entspannen, überkommt mich das Bedürfnis zu erfahren, wie viele Erbsen auf dem Löffel sind, mit dem ich esse. Oje.
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