Welten - Roman
Betten, doch niemand saß aufrecht oder wanderte herum. Zugegeben, es war nur ein flüchtiger Blick, aber genau diese Friedlichkeit empfand ich als beunruhigend. Wieder zog ich mich zurück, entschlossen, es in der Nacht erneut zu versuchen.
Mitten in der Nacht schlüpfe ich aus dem Bett und streife den Morgenmantel über.Von meiner üblichen Abendmedizin fühle ich mich kaum beeinträchtigt, da ich nur eine Tablette geschluckt und die andere später ausgespuckt habe. Ich nehme die Taschenlampe mit, die ich im Nachttisch aufbewahre. Sie funktioniert nicht mit Batterien, sondern muss immer wieder gedrückt werden. Dadurch wird ein Schwungrädchen in Bewegung gesetzt, das mit einem schwachen Sirren ein orangegelbes Licht erzeugt.
Außerdem habe ich ein kleines Messer, von dem das Personal nichts weiß. Schälmesser nennt man es, glaube ich. Eines Tages fand ich es auf dem Tablett mit dem Mittagessen, verborgen unter dem Hauptteller. Es hat eine scharfe Klinge und eine Kerbe in dem festen schwarzen Plastikgriff. Als ich es entdeckte, klebten schmierige Gemüsereste daran. Anscheinend war es von den Küchenangestellten verlegt worden und dann irgendwie auf dem Tablett gelandet.
Einer ersten Regung folgend, wollte ich es melden, einen Wärter rufen oder es einfach offen auf dem Tablett liegen lassen, damit es in die Küche zurückgebracht oder weggeworfen werden konnte (die Kerbe am Griff konnte von Keimen verseucht sein). Ich weiß eigentlich selbst nicht so genau, warum ich es an mich nahm, mit einer Papierserviette abputzte und es auf dem schmalen Sims hinten am Nachttisch versteckte. Es kam mir einfach richtig vor. Ich bin bestimmt nicht abergläubisch, aber das Messer erschien mir wie ein Geschenk des Schicksals oder des Universums, und es wäre unhöflich gewesen, es auszuschlagen.
Auch das Messer stecke ich ein.
Mein Zimmer ist nicht abgeschlossen. Ich trete hinaus und mache leise die Tür hinter mir zu. Durch den schwach
beleuchteten Korridor blicke ich zum Aufenthaltsraum und zur Schwesternstation. Dort ist es etwas heller, und aus einem Radio dringt kaum hörbar blecherne Musik. Wie viel gefährlicher mir nun auf einmal dieser Weg erscheint, den ich untertags schon zweimal beschritten habe!
Als ich zur Treppe strebe, verursachen die Sohlen meiner Pantoffeln nur ein ganz schwaches Klatschgeräusch. Behutsam öffne und schließe ich die Tür. Das Treppenhaus ist besser beleuchtet als der Korridor und riecht nach Putzmitteln. Ich steige hinunter ins Erdgeschoss und schleiche mich genauso leise in den Gang, wie ich den oberen verlassen habe. Ich nähere mich den beiden halbverglasten Türen und der dahinter wartenden Dunkelheit.
Ich schlüpfe durch die Tür und lasse sie hinter mir zufallen. Die Station sieht genauso aus wie in der vergangenen Nacht. Ich trete zu dem Dicken im ersten Bett bei der Tür, neben dem ich gelegen habe. Er wirkt völlig unverändert. Vorsichtig passiere ich die anderen Betten. Alles ganz gewöhnliche Leute, ausschließlich Männer, eine bunte Mischung aus Körperformen und Hautfarben. Alle schlafen friedlich.
Irgendetwas nagt an mir. Etwas, was den ersten Patienten betrifft, den Dicken gleich bei der Tür. Vielleicht komme ich darauf, wenn ich auf dem Weg hinaus nochmal einen Blick auf ihn werfe. Kurz vor dem hinteren Ende der Station fällt mir etwas am Hals eines Schlafenden auf. Ich leuchte mit der Taschenlampe und halte die Hand halb davor, um ihn nicht zu blenden. In der Nähe des Adamsapfels ist getrocknetes Blut. Aber nur wenig, nichts Unheilvolles. Wahrscheinlich nur ein Schnitt bei der Rasur.
Ah, genau das ist es. Ich schleiche nach vorn zu dem Dicken.Vergangene Nacht hatte er einen Sieben-Tage-Bart,
doch jetzt ist er glattrasiert. Ich spähe zurück in die Station. Alle sind glattrasiert. Ansonsten trifft man hier in der Klinik durchaus auf Männer mit Voll- oder Schnurrbart; anscheinend gibt es dazu keine festen Vorschriften. Von zwanzig Männern haben bestimmt ein oder zwei einen Bart. Ich mustere das schlaffe, glatte Gesicht des Dicken. Er hat sich - oder wurde - nicht sehr gründlich rasiert. Hier und da sind kleine Haarbüschel stehen geblieben, außerdem hat auch er Schnitte.
Einem Impuls folgend lege ich ihm die Hand auf die Schulter und schüttle ihn sanft. »Entschuldigen Sie?« Ich benutze die Landessprache. »Hallo?«
Ich schüttle ihn erneut, etwas fester diesmal. Er gibt ein Grummeln von sich, und seine Lider flattern. Wieder zerre ich an ihm. Seine Augen
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