Welten - Roman
Pause zu füllen, sagte er: »Wirklich?«
»Beim Konzern ist es allerdings noch schwerer, das Geschehen zu erkennen.« Sie wandte sich ihm zu. »Es gibt Ebenen, von denen die meisten nicht einmal wissen. Ich war auf der Stufe unmittelbar unter dem Zentralrat. Wenn ich mir nichts hätte zuschulden kommen lassen, wäre ich jetzt auch dort, oder spätestens in zehn Jahren, vorausgesetzt, einer der Hartnäckigen bleibt seiner Sache treu und stirbt, statt in einem neuen Körper weiterzumachen. Du bist ebenfalls eine Ebene darunter, Tem, und auf dem Weg nach oben, aber wahrscheinlich weißt du es gar nicht.« Ihre Augen verengten sich wieder, und sie legte den Kopf schräg. »Habe ich Recht?«
»Ich dachte immer, dass man viel in Komitees arbeiten und sich am politischen Gerangel in Calbefraques beteiligen muss. Mir macht die Arbeit in vorderster Linie zu viel Spaß. Außerdem ist es auch den unteren Rängen schon aufgefallen, dass sich die Fluktuation im Zentralrat in den letzten fünfzig Jahren stark verlangsamt hat.«
»Trotzdem, du bist einer der potenziellen Auserwählten.«
»Ich fühle mich geschmeichelt. Willst du mich deshalb rekrutieren?«
»Nicht unbedingt. Anscheinend sehen sie was in dir. Das tue ich auch, aber wahrscheinlich nicht genau das Gleiche. Ich nehme ein Potenzial in dir wahr, von dem sie wahrscheinlich nichts ahnen. Und ich glaube, dass du dich für die richtige Seite entscheiden wirst.«
»Genau wie sie, schätze ich. Womit wir wieder bei der Frage nach den Seiten wären. Du wolltest sie mir doch gerade beantworten. Ich hatte dich darum gebeten.«
Sie trat zu ihm und legte einen schneeweichen weißen Handschuh auf seinen. »Der Zentralrat ist besessen von Macht, sie geht ihm über alles. Die Mittel sind zum Zweck geworden. Wenn sich ihm niemand entgegenstellt, wird die Expédience nichts anderes mehr tun, als die eigene Machtfülle zu vergrößern und die verdeckten Absichten zu verfolgen, die die Ratsmitglieder hegen. Ich denke, das ist unstrittig. Außerdem glaube ich, dass sie auf Geheiß von Madame d’Ortolan noch an einem anderen geheimen Plan arbeiten, der sich vielleicht um die Einzigartigkeit des menschlichen Lebens und die Sonderstellung von Calbefraques dreht. Aber ich bin dem Machtzentrum nie nah genug gekommen, um Genaueres herauszufinden.«
»Was, und ich soll mich in die Höhle des Löwen wagen?«
»Nein. Es dauert zu lang, bis man dich in den Rat beruft, falls es überhaupt dazu kommt. Dann ist es schon zu spät.«
»Zu spät?«
»Ja, weil der Rat bald exakt nach Madame d’Ortolans Vorstellungen besetzt sein wird: ausschließlich mit Leuten, die genauso denken wie sie, die alles tun, was sie will, und
die nie sterben werden, weil sie sich immer wieder in jüngere Körper verpflanzen, wenn die alten vergreisen.«
»Und was schlägst du vor?«
Ihr Lächeln wirkte verhalten. »Letztlich, dass der Zentralrat aufhört zu existieren oder radikal in die Schranken gewiesen und umbesetzt wird. Dieser Vorgang müsste natürlich demokratisch beaufsichtigt werden. Meinetwegen können sie sogar ihre Unsterblichkeit behalten, wenn sie nur für immer aus dem Rat zurücktreten. Langes Leben für lange Dienste. Ein Anreiz, sich zu engagieren, aber sich nicht festzusetzen.«
»Trotzdem verlangst du damit ziemlich viel von ihnen.«
»Das ist mir klar. Im Moment kann ich mir auch nicht vorstellen, dass sie ihre Privilegien kampflos aufgeben.«
»Und die andere Seite besteht nur aus dir und deiner Bande?«
»Ach, es gibt zahlreiche Leute, die das genauso sehen, sogar einige im Zentralrat.«
»Zum Beispiel?«
Wieder dieses Lächeln, ein wenig wachsam diesmal. »Erzähl mir zuerst, ob du mich verraten hast, Tem.« Sie senkte leicht den Kopf, während sie zu ihm aufblickte.
»Verraten?«
»Wir haben schon öfter miteinander geredet. Ich bin eine Gesetzlose. Wenn du nach Vorschrift gehandelt hast, dann hast du unsere Treffen gemeldet.«
»Ich habe sie gemeldet«, erwiderte er. »Ist das Verrat?«
»Für sich genommen nicht. Was gab es noch? Wozu haben sie dich aufgefordert?«
»Dass ich mich weiter mit dir treffe und mit dir rede.«
»Was du getan hast.«
»Was ich getan habe.«
»Und gemeldet hast.«
»Richtig.«
»In vollem Umfang?«
»Nicht ganz.«
»Und hast du versprochen, du hilfst ihnen, mich zu fangen?«
»Nein.«
»Aber du hast dich auch nicht geweigert, ihnen zu helfen.«
»Nein. Sie haben mich gefragt. Ich habe geantwortet, dass ich natürlich das Richtige tun
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