Welten - Roman
anderer.
Wie ich erfahren habe, war ich Kranführer. Ich habe mit einem dieser Turmkräne gearbeitet, die bei der Errichtung von Hochhäusern und anderen großen Gebäuden eingesetzt werden. Eine qualifizierte und verantwortungsvolle Tätigkeit, die nur von einem Menschen mit klarem, unbeeinträchtigtem Verstand ausgeübt werden darf. Ich werde also nicht einfach wieder damit anfangen können. Aber, so fällt mir auf, es ist auch eine Tätigkeit, die sich vielleicht jemand aussucht, der nicht gern Umgang mit Menschen hat und lieber frei und ungehindert hoch über der Stadt seinen Fantasien nachhängt, ohne dabei den mechanischen Ablauf seiner Arbeit zu vernachlässigen.
Sowohl zu Hause als auch dort oben am Himmel habe
ich als Einzelgänger gelebt. Ich hievte Ladungen von einem Ort zum anderen, während unten die Leute wimmelten wie Ameisen, und erhielt meine Anweisungen von körperlosen Stimmen aus einem knisternden Funkgerät. Keine Familie, keine engen Freunde (daher auch keine Besucher, mit Ausnahme eines Poliers der Firma, als ich noch katatonisch war; allerdings ist der Bautrupp inzwischen an einen anderen Ort weitergezogen). Offenbar hatte ich eine kleine städtische Wohnung gemietet, die inzwischen jemand anderem zugeteilt wurde. Meine persönlichen Gegenstände sind eingelagert, bis ich sie abhole.
Aber ich habe keine Erinnerungen an dieses Leben.
Vielmehr sehe ich mich als gefährlichen, verwegenen Helden, als unerbittlichen, absolut tödlichen Attentäter, als gewieften Schurken und später (vielleicht aber auch nur potenziell) als erfolgreichen Macher und Neuerer in einer aufkeimenden Schattenorganisation, die sich verborgen unter unserer banalen Existenz verbreitete wie ein fabelhaft buntes und vertracktes Mosaik, das lange unter einem bescheidenen Herd vergraben lag.
Nichts vermag mich davon zu überzeugen, dass diese ruhige, anspruchslose, unspektakuläre kleine Welt alles ist. Jenseits dieser geistlosen Unmittelbarkeit existierte eine größere Realität, an der auch ich entscheidend mitgewirkt habe und in die ich zurückzukehren gedenke. Ich wurde verraten oder zumindest verfolgt und wäre fast umgekommen, aber ich bin entronnen - woran angesichts meiner Fähigkeiten auch nicht zu zweifeln war - und warte nun hier in meinem Versteck auf meine Zeit. Doch ich muss mir überlegen, ob es reicht, hier geduldig auszuharren, oder ob ich selbst entschlossen handeln soll.
Ich muss gewappnet sein für den nächsten Schritt.
MADAME D’ORTOLAN
Zwischen den Platanen und Aussichtstürmen von Aspherje erhebt sich an diesem klaren Mittsommermorgen die im Dämmerlicht glitzernde Nebelkuppel in all ihrer Pracht wie eine riesige goldene Denkkappe über der Universität für Praktische Talente. Unten, zwischen den Statuen und Bächlein des Parks auf den Dächern der Philosophischen Fakultät, wandelt Lady Bisquitine mit Gefolge.
Von einer etwas höher gelegenen Terrasse aus beobachtet Madame d’Ortolan mit Mr. Kleist an ihrer Seite die kleine, näher kommende Gruppe. Aus fünfzig Metern Entfernung sieht Bisquitine ganz normal aus: eine hübsche, mollige Blondine in einem ziemlich altmodischen langen weißen Kleid, begleitet von vier Herren und einer Kammerfrau.
»Es gibt andere Kräfte, die wir einsetzen könnten, Madame.«
Kleist hat schon länger auf eine Gelegenheit für diese Bemerkung gewartet. Im Verlauf des vergangenen Tages hätte er sie ein Dutzend Mal anbringen können, doch stets hat er den Mund gehalten.
Auch sie hat damit gerechnet. »Ich weiß.« Noch immer ruht ihr Blick auf der flanierenden Gruppe. Anscheinend hat Bisquitine sie noch nicht entdeckt. Im Gegensatz zu ihren Begleitern - Betreuer und Wachen -, falls sie ihrer Aufgabe gerecht werden, aber auch ihnen ist nichts anzusehen. Madame d’Ortolan tritt zwei Schritte auf den rosafarbenen Steinen zurück, so dass sie die weiß gekleidete Frauengestalt nur noch knapp ausmachen kann. »Was machen Gongova und Jildeep?«
Kleist übergeht die Frage, weil er weiß, dass sie rein
rhetorisch ist, eher eine Anmerkung als eine Bitte um Auskunft. »Wir verfügen noch über andere Kräfte. Es ist nicht nötig, auf dieses … Wesen zurückzugreifen.«
»In der Tat. Aber was wir auch tun, es braucht auf jeden Fall Zeit. Und wenn wir nicht auf unsere blonde Freundin vertrauen, wird auch die nächste von uns ausgesandte Einheit lediglich als kleine Verschärfung wahrgenommen werden, mit der er sowieso schon rechnet.Wir müssen ihm eine wirklich böse
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