Welten - Roman
bald. Wir werden sehen. Das verstehen Sie doch. Sie müssen noch etwas Geduld haben.«
Ich möchte protestieren, aber mir ist klar, dass ich nahe daran bin, den Bogen zu überspannen. Wenn ich zu heftig auf meine Entlassung dringe, verstehen sie das vielleicht als Anzeichen für Labilität oder eine Neurose. Mühsam ringe ich mir ein Lächeln ab. »Also morgen. Hoffe ich«, füge ich hinzu, um der Ärztin keinen Anlass zu einem erneuten »Vielleicht« zu geben.
»Nein!«, jammere ich, als ich die zwei beigen Tabletten am Grund der Tasse bemerke. Die Tasse ist aus farblosem, durchscheinendem Plastik und winzig, selbst wenn man sie zum Servieren eines geistigen Getränks verwenden würde. Doch mir erscheint sie tief, dunkel und gefährlich wie ein Bergwerkschacht.Verzweifelt starre ich hinein. »Ich will nicht!« Mir ist bewusst, dass ich klinge wie ein störrisches Kind.
»Sie müssen«, antwortet die alte Krankenschwester, die allmählich die Geduld verliert. »Ein harmloses Mittel, Mr. Kel. Damit Sie gut schlafen.«
»Aber ich schlafe gut!«
»Frau Doktor sagt, dass Sie sie nehmen müssen, Mr. Kel.« Mit diesem Argument ist für die Schwester anscheinend jeder Einwand vom Tisch gefegt. »Soll ich vielleicht die Frau Doktor holen?«
Das ist eine Drohung. Wenn sie einen Arzt holt und
ich mich weiter weigere, die Schlaftabletten zu nehmen, kann sich das negativ auf meinen Wunsch auswirken, möglichst bald entlassen zu werden. »Bitte zwingen Sie mich nicht.« Ich beiße mir in die Unterlippe, um an ihre Gefühle zu appellieren. Das Ganze ist nur teilweise gespielt. Aber sie lässt sich nicht erweichen. Das kennt sie alles schon. Eine jüngere Schwester hätte ich vielleicht täuschen können, aber diese hier lässt sich nichts vormachen.
»Na schön, dann holen wir Frau Doktor.« Sie wendet sich zum Gehen.
Ich muss die Arme ausstrecken und ihr nachrufen: »Nein, in Ordnung! Ich nehme sie.«
Sie dreht sich wieder um und besitzt wenigstens den Anstand, nicht selbstzufrieden auszusehen.
Erste Verteidigungslinie: Ich verberge die Pillen unter der Zunge und spucke sie aus, sobald sie weg ist. Aber sie beharrt darauf, mir in den Mund zu schauen, und so bleibt mir nichts anderes übrig, als sie zu schlucken.
Zweite Verteidigungslinie: Ich gehe auf die Toilette und übergebe mich. Doch die Krankenschwester hat damit gerechnet, dass ich so etwas vorhabe, und passt genau auf, während sie den Korridor abschreitet und Medikamente verteilt. Zweimal scheucht sie mich zurück ins Bett mit der Drohung, mir eine Beruhigungsspritze zu geben, falls ich mich weiter auf die Toilette schleichen will. Sie weiß genau, dass ich erst vor zehn Minuten dort war.
Dritte Verteidigungslinie: Ich übergebe mich hier im Zimmer in meinen Wasserkrug oder zum Fenster hinaus. Ich kann die Klinik auch auf eigene Verantwortung verlassen, wenn es sein muss. Anschließend wird natürlich alles schwerer für mich - das Finden einer Wohnung und einer
Arbeitsstelle -, aber nicht unmöglich. Ich bin nicht dumm, ich kann mich durchschlagen.
Einige Zeit später wird mir undeutlich bewusst, dass man mich sanft nach oben zieht und mir etwas - den Wasserkrug vielleicht - aus den Händen nimmt. Ich werde ins Bett gebracht, und das Licht wird ausgeschaltet. Ich bin ganz schläfrig und irgendwie auch froh darüber, hier bequem in die Decke gewickelt zu liegen und langsam wegzudämmern, während ein anderer Teil von mir vor Wut und Angst heult und mich anschreit, dass ich aufwachen und fliehen soll, dass ich was unternehmen muss, irgendwas, schnell.
In dieser Nacht sucht er mich wieder heim. Das Medikament wirkt noch, und es ist, als wäre ich in dicke Watteschichten gepackt und würde alles wie durch einen an den Rändern ausgefransten Schleier wahrnehmen.
Irgendetwas an der Qualität des Lichts und der Geräusche um mich her verändert sich, und ich ahne, dass sich leise die Tür öffnet und schließt. Und dann habe ich das Gefühl, dass jemand mit mir hier im Zimmer ist. Zuerst spüre ich keine Bedrohung. Ich habe den vagen, grundlosen und völlig idiotischen Eindruck, dass diese Person gekommen ist, um nach mir zu sehen und mich zu beschützen. Dann passiert etwas mit meinem Bett. Noch immer beharre ich auf der nebelhaften Annahme, dass alles in Ordnung ist und sich jemand um mich kümmert. Anscheinend will jemand meine Decke zurechtziehen. Das finde ich nett. Wie bei einem Kind, das warm und geborgen in der Liebe seiner Eltern
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