Welten - Roman
Gereiztheit und echter Kränkung. »Verschonen Sie mich bitte.« Mit einem Kopfschütteln wendet er sich ab und verschwindet in dem Gewühl.
Madame d’Ortolan ist zutiefst schockiert.
DER PHILOSOPH
Mein Vater war ein Rohling, meine Mutter eine Heilige. Als klobiger, kräftiger Kerl machte er großzügig Gebrauch von seinen Fäusten. In der Schule musste er ein Jahr wiederholen und war daher immer der Größte in der Klasse. So groß, dass er manchmal sogar den Lehrern Angst einjagte. Schließlich wurde er hinausgeworfen, weil er einem Mitschüler den Kiefer gebrochen hatte. Nach seiner Version war es ein zwei Jahre älterer Junge, ein gemeiner Schläger. Erst zwanzig Jahre später, als er schon tot war, fanden wir heraus, dass es in Wirklichkeit ein Mädchen aus seiner Klasse gewesen war.
Er wollte immer Polizist werden, fiel aber ständig durch die Aufnahmeprüfung. So arbeitete er im Strafvollzug, bis er wegen Gewalttätigkeit gekündigt wurde.Wer jetzt lachen will, bitte schön.
Meine Mutter wurde streng religiös erzogen. Ihre Eltern waren Mitglieder einer kleinen Sekte namens Erste Kirche der Erwählten Christi Unseres Erlösers und Herrn. Einmal ließ ich fallen, dass die Kirche wohl mehr Wörter in ihrer Bezeichnung als Mitglieder hatte. Es war das einzige Mal, dass sie mich schlug. Sie war stolz darauf, erst nach der Hochzeit mit meinem Vater zu schlafen, an ihrem achtzehnten Geburtstag. Ich glaube, im Grunde wollte sie einfach von ihren Eltern mitsamt ihren Verboten und Regeln loskommen. Sie hatten jede Menge Regeln. Bevor sie heiraten durften, musste Dad den Kirchenälteren und unserem Pfarrer versprechen, all seine Kinder streng nach den Geboten der Kirche zu erziehen. Allerdings tat er das nur, um sich auf bequeme Weise seiner elterlichen Verantwortung zu entledigen. In meiner Jugend gab er sich so wenig
wie nur irgend möglich mit mir ab. Meistens las er mit Lippen, die sich stumm bewegten, seine Zeitung oder hörte sich unterm Kopfhörer Musik an, zu der er laut und völlig falsch summte. Wenn ich versuchte, seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, legte er die Zeitung weg und forderte mich mit finsterer Miene auf, mich an meine Mutter zu wenden, oder er funkelte mich nur wütend an, ohne die Musik leiser zu drehen, und deutete mit dem Finger zuerst auf mich und dann zur Tür. Er mochte Country- und Westernmusik, je sentimentaler desto besser.
Er machte kein Geheimnis aus der Tatsache, dass er selbst keinen Glauben hatte, außer dass »es da oben was geben muss«, wie er manchmal im Rausch verkündete. Und das heißt, ziemlich oft.
Meine Mum muss wohl irgendetwas in ihm gesehen haben. Aber vielleicht kam es ihr auch wie gesagt vor allem darauf an, den kleinlichen Vorschriften und Beschränkungen zu entrinnen, die sie im Haus ihrer Eltern hatte akzeptieren müssen. Leider hatte auch Dad einen Haufen Regeln, wie wir beide feststellen mussten. Bei mir lief das Entdecken einer neuen Regel meistens so, dass ich eine Ohrfeige bekam oder, wenn ich was wirklich Schlimmes angestellt hatte, dass Dad den Gürtel abschnallte und mir den Hintern versohlte. Für Mum hieß es aus dem Regen in die Traufe. Ich fing gleich in der Traufe an.
Mum machte mich zu ihrem kleinen Goldschatz und schenkte mir all die Liebe, die eigentlich Dad gegolten hatte, aber einfach von ihm abprallte. Das heißt nicht, dass sie einen Schwulen aus mir machte oder so was. Ich bin nicht homosexuell, sondern ganz normal. Ich hatte nur eine unausgewogene Erziehung in dieser seltsamen Familie, in der mich ein Elternteil wie einen Götzen anbetete, während
mich der andere behandelte wie ein Haustier, das eingeschleppt worden war, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Wenn ich darüber nachgedacht hätte, hätte ich meine Familie wohl als normal bezeichnet. Aber ich dachte nicht darüber nach, und es fiel mir nicht ein, andere Kinder danach zu fragen, wie es bei ihnen daheim zuging. Außerdem hatte ich sowieso nicht viel Kontakt mit anderen Kindern in der Schule. Sie kamen mir sehr laut und wild vor, und sie hielten mich umgekehrt anscheinend für still. Oder für gefühlskalt. Ich wurde gehänselt und schikaniert, weil ich Christ war.
Die Leute würden vielleicht sagen, dass es eine gestörte Kindheit war, aber mir kam es nicht so vor, damals nicht und eigentlich auch später nicht. Es war eben, wie es war. Im Unterricht strengte ich mich an, und nach der Schule und an den Wochenenden machte ich lange Spaziergänge auf dem Land. Meine
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