Welten - Roman
wahrscheinlich schon die ganze Zeit, aber die Schreie meiner Mutter und mein eigenes Summen hatten sie übertönt. Ich vernahm, wie Mum aufstand und hinüber zum Gitterbett trat, um sie zu trösten, obwohl ihr selbst dabei immer wieder die Stimme brach. Dad schnarchte laut vor sich hin, Mum schluchzte haltlos, als würde sie gleich zusammenklappen, und meine Schwester wimmerte mit hoher, durchdringender Stimme. Erst jetzt fingen unsere Nachbarn an, an die Wand zu klopfen und zu rufen. Ihre Stimmen waren wie ein müder, ferner Kommentar zu den Ereignissen.
Ich schäme mich nicht zu gestehen, dass ich in dieser Nacht noch lange weinen musste. Doch irgendwann schlief ich ein, und am nächsten Tag stand ich auf, um zur Schule zu gehen. Schon erstaunlich, was man alles aushält und überwindet. Fast alles eigentlich.
Dennoch glaube ich, dass damals meine Entscheidung fiel, nie zu heiraten und Kinder zu haben.
DREI
PATIENT 8262
Meine Existenz hat etwas Reines an sich. Etwas Schlichtes. Im Grunde passiert nicht viel. Ich liege hier und schaue ins Leere oder durchs Fenster auf die Landschaft draußen, ich blinzle, schlucke, drehe mich ab und an um, stehe gelegentlich auf - immer wenn sie am Morgen mein Bett machen - und starre mit offenem Mund die Schwestern und Wärter an. Hin und wieder versuchen sie, eine Unterhaltung mit mir anzufangen. In diesem Fall lege ich besonderen Wert darauf, sie freundlich anzulächeln. Es hilft, dass wir nicht dieselbe Sprache sprechen. Zwar verstehe ich das meiste, was sie sagen - zumindest ausreichend, um eine Vorstellung davon zu haben, welche gesundheitlichen Beschwerden sie bei mir vermuten und mit welchen Behandlungsformen ich seitens der Ärzte rechnen muss -, aber es kostet mich große Mühe, und ich könnte mich in ihrer Sprache kaum sinnvoll ausdrücken.
Bisweilen nicke ich, lache oder gebe einen Laut von mir, der irgendwo zwischen einem Räuspern und dem unartikulierten Stöhnen eines Tauben liegt, und oft runzle ich auch noch die Stirn, als würde ich mich anstrengen, ihre Worte zu begreifen, oder als wäre ich frustriert, weil ich mich ihnen nicht verständlich machen kann.
Manchmal erscheinen Ärzte und nehmen Untersuchungen an mir vor. Anfangs waren es sogar ziemlich viele Ärzte und Tests. Inzwischen ist es weniger geworden. Sie geben mir Bücher mit Fotos oder Zeichnungen von Alltagsgegenständen oder mit großen Buchstaben, die eine ganze Seite
einnehmen. Eine Ärztin brachte mir ein Brett mit Buchstaben auf Holzklötzen aus einem Kinderspiel. Mit einem Lächeln mischte ich die Klötze durcheinander, schob sie auf dem Brett hin und her, bildete hübsche Muster und kleine Türmchen damit, um den Eindruck zu erwecken, ich würde mich bemühen, die Buchstaben zu begreifen und die Erwartungen der Ärztin zu erfüllen, damit sie zufrieden war. Sie war eine freundlich aussehende junge Frau mit kurzem, braunem Haar und großen braunen Augen, und sie hatte die Angewohnheit, sich mit dem Ende ihres Bleistifts an die Zähne zu klopfen. Sie war sehr geduldig und im Gegensatz zu manchen anderen Ärzten überhaupt nicht brüsk. Ich mochte sie sehr und hätte gern etwas getan, um sie zufriedenzustellen. Aber es war mir nicht möglich.
Stattdessen klatschte ich nach Art eines Babys oder Kleinkinds die Hände mit gespreizten Fingern zusammen und stieß die Buchstabentürmchen um, die ich errichtet hatte. Mit einem bedauernden Lächeln tippte sie den Bleistift an die Zähne, bevor sie sich seufzend auf ihrem Klemmbrett Notizen machte.
Ich war erleichtert, weil ich schon befürchtet hatte, es mit dem Babygeklatsche übertrieben zu haben.
Ich darf allein auf die Toilette gehen, und manchmal tue ich so, als würde ich dort einschlafen. Wenn sie an die Tür klopfen und meinen Namen rufen, lasse ich immer ein entschuldigendes Gebrabbel hören und komme heraus. Sie nennen mich »Kel«, weil sie meinen richtigen Namen nicht kennen. Es gab einen Grund, irgendetwas zwischen einem launischen Einfall und einem Witz, warum ich so getauft worden war, aber der Arzt, der auf diese Idee kam, hat in diesem Jahr die Klinik verlassen.Was hinter meinem Namen steckt, steht nicht in meiner Patientenakte, und
niemand kann sich an den Grund erinnern. Allein baden darf ich nicht, aber gewaschen zu werden ist ohnehin nicht so schlimm. Sobald man die anfängliche Scham überwunden hat, ist es recht entspannend. Sogar ein richtig luxuriöses Gefühl. Ich achte darauf, immer am Morgen eines Badetags auf der
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