Welten - Roman
verschwunden bin, aber ich frage mich immer, ob das wirklich stimmt. Könnte es nicht sein, dass sie ihr von mir erzwungenes Handeln wahrnehmen, noch während es geschieht? Sind sie nicht vielleicht mit von der Partie, wenn ich ihren Körper übernehme, und erleben - sicherlich verängstigt und hilflos -, welche Maßnahmen ich ergreife, um meinen Auftrag zu erfüllen?
Oder sind sie absolut ahnungslos und wachen praktisch auf, um plötzlich - im Fall der gerade abgeschlossenen Operation - mit einem Sterbenden, Blut an den eigenen Händen und den Blicken entsetzter Zeugen konfrontiert zu sein? Was kann man unter solchen Umständen tun? Erschrocken zurückfahren und schreien: »Das war ich nicht!«? Wohl kaum. Eher schon einfach Fersengeld geben, würde ich meinen. Womöglich wäre es für diese armen Schweine aber das Beste, wenn sie tot zusammenbrächen, sobald ich sie verlasse. Ich habe nach diesen Dingen gefragt,
aber der Konzern ist von Natur aus sehr konservativ und verschlossen, und selbst die Forscher, Techniker und Fachleute, zu deren Beruf es gehört, über solche Angelegenheiten im Bilde zu sein, sind nicht geneigt, entsprechende Auskünfte zu erteilen.
Sicherlich gibt es Menschen, die die Antworten auf diese und weitere Fragen kennen. Madame d’O auf jeden Fall; auch Mrs. M, Dr. Plyte, Professore Loscelles und all die anderen Mitglieder des Zentralrats. Mit großer Wahrscheinlichkeit existiert dafür eine ganze Abteilung des … hmm, aus irgendeinem Grund erscheint mir der Ausdruck Konzern nicht passend. Dies ist eine der Welten, in der man eher von der Expédience spricht.
Wie auch immer. Jedenfalls gibt es einen ganzen Kader von Experten, die sich intensiv damit befasst haben, was geschieht, wenn jemand wie ich eine Person in einer anderen Realität übernimmt und sie dann wieder verlässt, aber die Expédience zählt mich nicht zum Kreis derer, die die Ergebnisse dieser Forschungen kennen müssen. Trotzdem hätte ich diese Informationen gerne. Ich habe selbst in bescheidenem Rahmen Experimente durchgeführt und versucht, die vorgefundenen Erinnerungen und Regungen zu durchstöbern, um vielleicht auf Spuren der verdrängten Persönlichkeit zu stoßen, doch bisher ist mir von diesen stellvertretenden Selbstbeobachtungen nichts geblieben als das Gefühl, etwas Albernes unternommen zu haben.
Dennoch geht etwas von dem Charakter des Menschen, dessen ich mich bemächtige, auf mich über. Daher rühren wohl die Zwangsstörungen und die sexuellen Neigungen wie auch die wechselnden Vorlieben für Kaffee, Tee, Schokolade, gewürzte Milch, Schnaps, fades oder pikantes Essen und Backpflaumen. Im Lauf der Jahre konnte ich
feststellen, dass ich die Realität, in der ich mich wiederfand, mit den Augen eines praktischen Arztes, eines Chirurgen, eines Landschaftsarchitekten, eines Mathematikers, eines Bauingenieurs, eines Viehzüchters, eines Anwalts, eines Versicherungsgutachters, eines Hoteliers oder eines Psychiaters betrachtete. Anscheinend fühle ich mich besonders in akademischen Berufen heimisch. Einmal war ich ein Kanalbauarchitekt, der gleichzeitig ein Serienmörder war. (Ja, ich weiß. Aber ich für meinen Teil ziehe es vor, als Attentäter betrachtet zu werden. Sogar Auftragskiller würde ich akzeptieren, sofern damit klar ist, dass meine Taten nicht auf einem zwielichtigen psychotischen Drang beruhen, sondern auf einer willentlichen Entscheidung. Ich gebe aber gern zu, dass die Bedeutung dieser Unterscheidung für meine Opfer eine eher untergeordnete Rolle spielt.) Bei dieser Gelegenheit musste ich den Impuls unterdrücken, Prostituierte zu erwürgen, um meinen Auftrag erfüllen zu können, der darin bestand, die Zielperson aufzuspüren und zu entführen (aber eben nicht zu töten!).
Allerdings war ich nie eine Frau, was ich eigentlich merkwürdig und auch ein wenig enttäuschend finde. Offensichtlich gibt es Grenzen.
Werden die Körper, in die ich eindringe, eigentlich auch mehrmals benutzt? Ich habe noch nie denselben Körper zweimal besucht, und auch nur selten zweimal dieselbe Realität.
Ehe ich von ihnen Besitz ergreife, haben die übernommenen Personen ein vollkommen normales Leben geführt. Ganz den Erwartungen entsprechend, haben sie eine Vergangenheit, eine Karriere und ein Netz privater und beruflicher Beziehungen. Ich habe erlebt, dass mich »meine« Frau, Lebensgefährtin oder Freundin, »meine« Kinder und
»meine« besten Freunde grüßten, ohne mir durch das geringste Unbehagen zu
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