Welten - Roman
Transitionsamt erwähnte - die führende Institution der Expédience, die zumindest theoretisch alle Handlungen von Leuten wie mir und Madame
d’Ortolan überwacht -, blinzelte der betreffende Funktionär nur hinter seiner rahmenlosen Brille und machte sich eilig eine Notiz, weil er es so interessant fand. Was soll man dazu sagen?
Die Droge, mit deren Hilfe wir diese Reisen unternehmen, heißt Septus. Manche nehmen sie in flüssiger Form aus kleinen Phiolen, die aussehen wie Ampullen. Andere schnupfen oder injizieren ihre Reisemedizin. Einige mögen sie in Form von Anal- oder Vaginalzäpfchen. Madame d’Ortolan soll letztere Variante bevorzugt haben.
Ich tippe sanft auf eine Ecke des Döschens, drehe es um neunzig Grad, tippe wieder und wiederhole den Vorgang. Die meisten nehmen Septus in Pillenform, weil es einfach die geringste Mühe macht. Für mich riechen die anderen Methoden eher nach Angeberei.
Von unten funkelt ein klares Stück Meer herauf. Ein aus der Höhe winzig wirkendes Schiff gleitet auf der unruhigen grauen Oberfläche langsam nach Norden und zieht eine fedrige weiße Heckwelle hinter sich her. Ich stelle mir vor, wie jemand von dort unten das Flugzeug als hellen Punkt wahrnimmt, das ebenfalls eine weiße Spur auf den blauen Himmel malt.
Vielleicht sind manche von den Verschwundenen auf völlig anderen Erden gelandet, wo Pangäa noch zusammenhält, wo sich der Mensch nie entwickelt hat und wo an unserer Stelle kluge Ottern oder insektoide Schwarmintelligenzen herrschen - wer weiß?
Beim Wechsel gelangen wir an einen Ort, den wir uns vorstellen, und wenn wir in einem Moment der Zerstreutheit gerade an etwas denken, das zu weit entfernt ist von dem, was wir kennen und wohin es uns zieht, enden wir vielleicht an einem Ort, von dem kein Vorstellungsweg
mehr zurückführt. Ich habe keine Ahnung, wie so etwas aussehen könnte - für Leute wie mich liegt bisweilen die letzte Rettung in ihrer großen Sehnsucht nach der Heimat -, aber man kann sich nie völlig sicher fühlen.
Immer wieder habe ich die Theoretiker, Techniker und Funktionäre des Transitionsamts ausgefragt, um zu erfahren, wie das alles funktioniert, und noch nie eine befriedigende Antwort erhalten. Man ist der Meinung, dass ich dieses Wissen nicht benötige. Trotzdem bin ich neugierig. Dass ich nach Savoie gesandt wurde, um diesen jungen Arzt vor dem Tod in einem einstürzenden Gebäude zu retten - erfordert das nicht Vorausschau? Müssen wir - sprich der Konzern - nicht die Fähigkeit besitzen, in die Zukunft zu blicken oder zeitlich versetzte, aber ansonsten gleichartige Realitäten so zu nutzen, dass wir aufgrund der Beobachtung von Ereignissen in der ersten das Geschehen in der zweiten beeinflussen können? Das würde aufs Gleiche hinauslaufen.
Aber natürlich kann es auch reiner Zufall gewesen sein, dass das Mietshaus in diesem Moment einstürzte. Sehr wahrscheinlich kommt mir das allerdings nicht vor. Zufall ist nur selten rein.
Es war im Kasino, dass ich Mrs. Mulverhill zum ersten Mal nach langer Zeit wiederbegegnete. Zumindest dachte ich das. Nicht dass ich es gleich gemerkt hätte.
Wie erwähnt sind Städte die besten Orte für einen Wechsel zwischen Realitäten - Verkehrsknotenpunkte nicht nur in einer bestimmten Welt, sondern auch in unserer multiplen Existenz. Die Hauptbotschaft der Expédience jener Welt, in die es mich immer wieder aus Zufall, wohl aber auch aus Neigung gezogen hat, liegt in der Stadt, die zu unterschiedlichen Zeiten die Namen Byzanz, Konstantinopel,
Konstantiniyye, Stambul und Istanbul trug. Sie ist ein idealer Brennpunkt für unsere Interessen und Fähigkeiten, da sie zwei Kontinente umspannt, Ost und West verbindet und die Vergangenheit mit ihrem reichen Vermächtnis auf eine Weise heraufbeschwört wie kaum eine andere Stadt auf dieser Meta-Erde. Antik, modern, ein brodelndes Gemisch aus Volksgruppen, Glaubensrichtungen, historischen Ereignissen und Haltungen, durchzogen und bedroht von Myriaden von Spannungslinien, verkörpert sie zugleich Tradition und Gefahr,Teilung und Verbundenheit. Eine weitere Vertretung haben wir in Jerusalem.
Auch in Berlin war eine, doch diese Stadt hat seit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands (eines jener weitverzweigten Meta-Ereignisse, das sich durch die Realitäten der vielen Welten fortpflanzte wie ein koordiniertes Übertragungsphänomen) viel von ihrer Attraktivität für uns verloren. Daher wurde die Botschaft geschlossen. Eigentlich schade.
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