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Welten - Roman

Titel: Welten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Mechanik aufspielen - eine spirituelle Mechanik, wenn man so will, aber dennoch eine Mechanik -, die sich hinter diesen überaus erratischen Reisen verbergen. Trotzdem besitze ich inzwischen einige bescheidene Kenntnisse über die Zusammenhänge. Manches habe ich von anderen erfahren, manches konnte ich mir selbst auf praktische Weise erschließen, so wie ich mir den wahren Zweck meines vorgetäuschten Schwächeanfalls zusammenreimen konnte, als das Gebäude einstürzte, das der junge Arzt fast betreten hätte.
    Der Übergang von hier in irgendeine andere Welt setzt anscheinend ein tief ausgeprägtes Raumempfinden und ein Mindestniveau gesellschaftlicher Komplexität voraus. Aus diesem Grund ist der Sprung zwischen den Realitäten nirgends so einfach wie in einer Großstadt.
    Aber auch im Flugzeug funktioniert es, wenn man das erforderliche Geschick besitzt. Das hat offenbar etwas mit der Ansammlung von Menschen zu tun. Ich nippe an meinem Gin Tonic und betrachte die Wolken unter mir. Die höchsten Gipfel des norwegischen Küstengebirges ragen auf wie gezackte Eiswürfel in Milch. Hoch über dem Wetter, wo der Himmel tiefblau ist, lasse ich mich in einem
riesigen Flugzeug verwöhnen, das die kürzeste Route von London nach Tokio nimmt.
    Vielleicht springe ich gleich hier in der Maschine. Oder vielleicht auch nicht. So etwas ist kein Kinderspiel - viele von uns haben schon ihre Droge verschwendet mit dem Versuch, von fernen Orten oder vor allem von beweglichen Startpunkten aus einen Übergang zu bewerkstelligen. Wenn ein erfolgreicher Wechsel nicht möglich ist, tut sich offenbar gar nichts und man bleibt einfach an Ort und Stelle. Allerdings gibt es auch Gerüchte, dass Menschen, die solche Manöver probiert haben, zwar durchaus in einer anderen Welt gelandet sind, jedoch ohne in der Zielrealität von einem Verkehrsmittel empfangen zu werden, wie sie es in der Ursprungsrealität zurückgelassen hatten. Wenn man vom Schiff aus wechselt, schwebt man plötzlich über dem offenen Ozean und kracht ins Wasser, um zu ertrinken oder von Haien zerfetzt zu werden. Oder wenn der Übergangsversuch in einem Flugzeug unternommen wird, materialisiert man sich in zwölftausend Metern Höhe ohne Luft zum Atmen, bei einer Temperatur von sechzig Grad minus und der Aussicht auf einen tiefen Fall. Beim Sprung in einem Flugzeug habe ich schon Erfolge und Misserfolge erlebt; Letztere natürlich ohne schwerwiegende Folgen.
    Ich ziehe das Ormolu-Döschen aus der Hemdtasche und drehe es auf meinem Klapptisch hin und her, hin und her. Springen oder nicht springen. Wenn ich das Flugzeug verlasse und nicht erst auf die Landung warte, kann ich meine Spuren besser verwischen. Allerdings könnte ich damit eine Tablette vergeuden. Und unter Umständen mache ich die unangenehme Entdeckung, dass die Gerüchte zutreffen, und beginne blitzgefroren und keuchend vor
Sauerstoffmangel den endlosen Sturz hinab ins Meer oder aufs Land. Außerdem gibt es auch die gut dokumentierte Komplikation, dass man sich bisweilen in einer Maschine mit einem völlig anderen Flugziel wiederfindet als dem gewünschten.
    Normalerweise besteht eine zuverlässige Gemeinsamkeit zwischen einer grob übereinstimmenden Gruppe von Welten hinsichtlich der Anordnung von Kontinenten, wesentlicher geografischer Merkmale wie Gebirgsketten und Flüsse und damit auch der Lage großer Städte und der Luftwege zwischen ihnen, so dass das Verlassen eines Flugzeugs zum Übergang in eine ähnliche Maschine auf einer parallelen Strecke führt. Doch so ist es durchaus nicht immer. Anscheinend sind der Verlagerung in Ort und Zeit, die Menschen unter solchen Umständen bewältigen konnten, Grenzen gesetzt: ein paar Kilometer in der Vertikalen, wenige Dutzend in der Horizontalen und einige Stunden früher oder später. Es ist, als würde man von einem Aspekt des Willens oder der Visualisierung zur nächsten möglichen Annäherung geleitet, doch mitunter greift der Einfluss dieser spukhaften Präsenz nicht, oder sie verfällt auf eine Notlösung, die völlig unzulänglich ist.
    Als ich einmal über den Alpen aus einem Flug nach Neapel ausstieg, fand ich mich in einer Maschine von Madrid nach Kiew wieder. Die beiden Strecken liegen praktisch in rechtem Winkel zueinander! Ich brauchte eineinhalb Tage, um wieder auf meine ursprüngliche Route zu gelangen, und verpasste dadurch eine Verabredung. Bis auf den heutigen Tag weiß ich nicht, weshalb das geschah. Als ich dieses kleine Abenteuer beim

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