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Welten - Roman

Titel: Welten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Ich mochte das alte, geteilte Berlin mit seiner Mauer. Die Stadt war ein großes, offenes, luftiges Terrain, zu beiden Seiten der Trennlinie von Seen und ausladenden Waldgebieten umgeben, doch in ihrem Kern herrschte immer eine Atmosphäre von Verlassenheit, und über beiden Seiten schwebte das Gefühl von Gefangenschaft.
    Man könnte auch sagen, die Stadt war eine langsam rotierende Scheibe. Wir sind immer auf der Suche nach wackeligen Drehscheiben, nach Orten, wo man das Gefühl hat, die Dinge könnten sich in die eine oder in die andere Richtung entwickeln, wo schon ein Anstoß, eine kleine Kraftanstrengung die Stabilität vielleicht wiederherstellen, wo aber auch ein wenig mehr Vernachlässigung - oder ein leichter Stups in die richtige/ falsche Richtung - zum Untergang
führen würde. Gerade aus solchen Katastrophen kann man interessante Lehren ziehen, denn manchmal erfährt man erst dann alles über eine Sache, wenn sie zerbrochen vor einem liegt.
    In der Ausbildung für den Beruf eines Transitionärs (unsere offizielle Berufsbezeichnung - ein wenig klobig, ich weiß; mir sind die Beinamen »Weltenwechsler« und zur Not auch »Springer« lieber) sollte es einen Punkt geben, an dem man feststellt, dass man einen zusätzlichen Sinn entdeckt oder erworben hat. In etwa ist dies der Sinn für die Geschichte, für die Verbundenheit, für die Dauer des Lebens an einem Ort, ein Gefühl für das Erbe menschlicher Ereignisse, das einer bestimmten Landschaft, einem Straßenzug, einem Gefüge aus Steinen anhaftet. Wir nennen es Fragre.
    Ein Aspekt davon ist vergleichbar mit einer scharfen Nase für den Geruch von altem Blut. Uralte Orte, an denen im Lauf der Jahrhunderte und Jahrtausende viel geschehen ist, sind oft davon durchdrungen. Jeder Schauplatz eines Massakers oder einer Schlacht wird noch Millennien danach einen Hauch davon ausströmen. Besonders beißend schlägt er mir entgegen, wenn ich im Colosseum in Rom stehe. Ein Großteil ist schlicht darauf zurückzuführen, dass vielfältige Generationen von Menschen dort gelebt haben und gestorben sind. Da jedoch die meisten Menschen jahrzehntelang leben, aber nur einmal sterben, übt das Leben einen ungleich stärkeren Einfluss auf das Aroma und die Aura eines Ortes aus.
    Beispielsweise besitzt der amerikanische Kontinent ein wesentlich anderes Fragre als Europa oder Asien; je nach Vorliebe weniger modrig oder reichhaltig.
    Wie ich höre, gelten Neuseeland und Patagonien im
Vergleich zu fast allen anderen Gegenden als ungeheuer frisch.
    Ich persönlich liebe das Fragre von Venezia. Nicht das Aroma - zumindest nicht im Sommer -, sondern eindeutig das Fragre.
    Besonders gern treffe ich mit dem Zug aus Mestre in Venedig ein.Wenn ich bei der Ankunft an der Station Santa Lucia kurz Sinne und Gedächtnis ausschalte, kann ich mir einbilden, irgendeinen von vielen großen italienischen Kopfbahnhöfen erreicht zu haben. Man schlendert zwischen den hohen Zügen dahin, durchquert die Halle mit ihrem mittelmäßigen, eher grobschlächtigen kommerziellen Getriebe und erwartet einen Anblick wie überall: eine belebte, von Autos, Lastwagen und Bussen besetzte Straße oder Piazza, bestenfalls eine Fußgängerzone und einige Taxis.
    Stattdessen erstreckt sich hinter der breiten Treppe und den verstreuten Menschen der Canal Grande! Hellgrünes, kabbeliges Wasser, der heftige Kielsog der Vaporetti; Barkassen, Wassertaxis und Arbeitsboote, Lichtreflexe von den Wellen, die über die Fassaden der Palazzi und Kirchen tänzeln; Türme, Kuppeln und Kamine wie umgekehrte Kegel, aufgereiht vor einem kobaltblau leuchtenden Himmel. Oder vor milchigen Wolken, deren gespiegelte Pastelltöne dem rastlosen Kanal die Schärfe nehmen. Oder vor dem Schleier dunkler Wolken, deren Regengüsse den Kanal bändigen und niederdrücken.
    Zum ersten Mal besuchte ich den Ort zur Karnevalszeit im Februar. Ich entdeckte Nebel und Stille und eine Kühle in der Luft, die wie eine Verheißung aus dem Wasser aufstieg. Mein Name war Mark Cavan. Ich sprach Mandarin, Englisch, Hindustani, Spanisch, Arabisch, Russisch und
Französisch. Die Berliner Mauer war bereits Geschichte, obwohl sie selbst noch zum größten Teil stand.
    Es war deine Welt.
    Ein Stück weiter unten am Westufer des Canal Grande steht ein imposanter, fast kubischer Palast. Seine Mauern sind gletscherweiß, die vielen Fenster werden beschirmt von mattschwarzen Läden. Dieser äußerst formelle und symmetrische Bau ist der Palazzo Chirezzia, in dem

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