Welten - Roman
verbraucht an, doch anderswo nur unterbrochen, als würde es bloß auf seine Fortsetzung warten.
In den nächsten Tagen lag überall in der Stadt Schnee, und unter dem meerweiten Himmel entstand eine hinreißend monochrome Kahlheit, die den vorüberziehenden
Wolken, dem Wasser und den Gebäuden die widerspenstigen Farben entzog.
Der letzte Ball fand im Dogenpalast in einem herrlichen Saal statt, der vor einem halben Jahrtausend errichtet worden war, um dem Gedränge von zweitausend Prinzen, Kaufleuten, Botschaftern, Kapitänen und Würdenträgern Platz zu bieten. Ein Luftstrom aus Afrika hatte sich hinauf über den italienischen Stiefel und die Adriaküste geschoben, den Schnee schmelzen lassen und dichten Nebel gebracht, als er auf Gegenwinde von den Bergen im Norden traf. Die Stadt schien unter einer undurchdringlichen Decke aus Dunst und Nässe zu versinken.
Dort begegnete ich meiner maskierten Frau.
Ich trug das Kostüm eines orthodoxen Priesters aus dem Mittelalter, dazu eine Spiegelmaske. Ich hatte Tänze getanzt, an der Tafel der Loscelles gesessen, mich an einer leicht gestelzten Unterhaltung mit den anderen Gästen des Hauses und dem Professore beteiligt, der sich ein wenig zu sehr für die Einzelheiten meiner Aufträge interessierte. Um uns beide zu schonen, gab ich ihm nur ausweichende Antworten. An diesem Abend hatte ich mich besonders für eine große, hübsche Brünette erwärmt, die ebenfalls bei den Loscelles zu Besuch war, aber nicht dem Konzern angehörte. Ihre schlanke Gestalt war auf äußerst attraktive Weise in die Tracht einer Renaissancedame gekleidet. Allerdings schien sie ihrerseits gefesselt von einem kühnen Cavaliere, und ich machte mir keine Hoffnungen mehr auf sie.
Um mich ein wenig vom Essen und Trinken, Tanzen und Reden zu erholen, begab ich mich auf einen Erkundungsgang durch den Palast. Ich schlenderte durch mehrere unbedeutende Gemächer, wurde aus anderen verscheucht
und landete schließlich im Saal des Großen Rats, durch dessen Mitte soeben ein prächtiger Tanz wirbelte. Ich starrte hinauf zu den Friesgemälden, die die Reihe der Dogen abbildeten, bis mein Blick schließlich an einem Bild hängen blieb, das zu fehlen schien oder zumindest mit einem schwarzen Schleier verhüllt war. Ich fragte mich, ob es sich um eine Tradition des Karnevals oder dieses besonderen Balls handelte.
»Das war der Doge Marino Faliero«, erklärte eine weibliche Stimme neben mir in leicht akzentbehaftetem Englisch. Ich wandte den Kopf und entdeckte, dass eine Piratenkapitänin das Wort an mich gerichtet hatte. Dank klobiger hoher Absätze war sie fast so groß wie ich. Die Jacke hing ihr von der Schulter wie einem Husaren. Der Rest ihres Kostüms wirkte bunt zusammengewürfelt: ausgebeulte Kniehose mit Messingknöpfen, extravagante Rüschenbluse, ein halb offenes, wie ein Mieder getragenes Wams, eine Trikoloreschärpe mit Perlen, verschiedene Ketten und ein halbmondförmiges Messingschild am Hals, der blass und schlank wirkte. Ihre schwarze Samtmaske war mit etwas wie spiralförmig angeordneten winzigen Perlen besetzt. Aus einer zerknitterten, marineblauen Mütze, die mit grellbunten Federn geschmückt war, hingen schwarze Locken.
Ich schaute hinauf zu dem verhüllten Platz in der Reihe der Dogen. »Tatsächlich?«
»Er war Mitte des 14. Jahrhunderts ein Jahr lang in seinem Amt.« Die Stimme der Maskierten klang jung, melodisch, selbstbewusst. »Sein Bild ist verhüllt, weil er ewige Schande auf sich geladen hat. Er wollte mit einem Staatsstreich die Republik abschaffen und sich zum Prinzen ernennen lassen.«
»Aber er war doch schon Doge«, wandte ich ein.
Sie zuckte die Achseln. »Als Prinz oder König hätte er noch mehr Macht gehabt. Dogen wurden gewählt. Zwar auf Lebenszeit, aber mit vielen Einschränkungen. Nicht einmal ihre eigene Post konnten sie öffnen. Zuerst musste sie vom Zensor gelesen werden. Außerdem durften sie sich nicht allein mit ausländischen Diplomaten unterhalten. Dafür war ein Ausschuss erforderlich. Sie hatten zwar viel Macht, aber andererseits waren sie auch nur Strohmänner.« Sie wedelte mit einer Hand (silberne Ringe über dem schwarzen Leder des Handschuhs). An ihrer linken Hüfte baumelte ein Degen oder zumindest die Scheide dafür.
»Ich dachte, sie hätten ihn nur wegen der Feier verhängt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, in alle Ewigkeit. Er wurde zur Damnatio Memoriae verurteilt. Und natürlich enthauptet und verstümmelt.«
»Natürlich.« Ich
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