Welten - Roman
reichlich naheliegende Grund dafür wäre natürlich, dass mich ihre Schreie an die meiner Mutter erinnern, als mein Vater sie vergewaltigte in jener unvergesslichen Nacht nach ihrer Heimkehr aus dem Krankenhaus, wo sie meine Schwester zur Welt gebracht hatte. Persönlich ziehe ich jedoch die Erklärung vor, dass es an meinen altmodischen guten Manieren liegt. Einem Gentleman liegt es einfach fern, eine Dame irgendwelchen Unannehmlichkeiten auszusetzen. Allerdings hält mich dies nicht davon ab, Frauen zu foltern, wenn es sein muss. Ich bin ein professioneller, gewissenhafter Experte, obgleich ich meine Arbeit bei einer Frau noch weniger genieße als bei einem Mann. Und ich gestehe ohne Scham, dass ich eine weibliche Befragte gelegentlich gebeten - ja buchstäblich angefleht - habe, nur schnellstmöglich alles preiszugeben; und ich gestehe des Weiteren ohne Scham, dass mir die Tränen in die Augen getreten sind, wenn ich einer Frau besonders hart zusetzen musste.
Unabhängig von den anderen eingesetzten Methoden, dient die Verwendung von Isolierband über dem Mund der Eindämmung von Schreigeräuschen, die der Befragte sodann durch die Nasenlöcher hervorbringen muss, was die Lautstärke deutlich reduziert, wie ich erleichtert vermelden darf.
Bei Kindern ziehe ich die Grenze. Manche meiner Kollegen erfüllen gern ihre Pflicht, wenn ein Kind gefoltert werden muss, um ein Elternteil zum Reden zu zwingen, aber mir erscheint dieses Vorgehen sowohl moralisch anstößig als auch prinzipiell fragwürdig. Ein Kind sollte nicht wegen der Torheiten oder Überzeugungen seiner Eltern leiden müssen. In dem Maße, wie die von uns verwendeten
Techniken an sich schon eine Art Strafe für Subversion,Verrat und Gesetzesbruch darstellen, sollten sie auch gegen die Schuldigen eingesetzt werden und nicht gegen ihre Familienangehörigen. Letztlich redet jeder. Jeder Einzelne. Ein Kind zu benutzen, um die Sache abzukürzen, beweist meines Erachtens nur Schlampigkeit, Trägheit und methodische Inkompetenz.
Aufgrund dieser Skrupel und vielleicht auch weil ich es interessant und erhellend finde, Themen wie die oben berührten mit meinen Kollegen zu erörtern, lautet mein Deckname in der Abteilung: der Philosoph.
DER WELTENWECHSLER
Ich lebe in einer Schweiz. Doch, doch, der unbestimmte Artikel ist beabsichtigt.
Die bestimmte Schweiz, in der ich wohne, heißt nicht einmal Schweiz, aber sie stellt einen anerkannten Typus dar, einen Ort, dessen Funktion und Eigenart all jenen vertraut ist, die wir zu den Wachen zählen. Wach heißt: im Bilde, was die Realität der Realitäten angeht. Wach ist also jemand, der Kenntnis davon hat, dass wir nicht in einer einmaligen, festen und linearen Welt leben, sondern in einer Vielzahl von Welten, die sich im Lauf der Zeit exponentiell und explosionsartig vermehren. Wichtiger noch, es ist ein Begriff für jene, die wissen, wie leicht es ist, zwischen diesen disparaten, unaufhörlich sich verzweigenden und entwickelnden Realitäten hin und her zu reisen.
Ich wohne in einem alten, föhrenumstandenen Haus oben auf einer Anhöhe mit Aussicht auf den kleinen,
aber feinen Kurort Flesse. Im Westen, jenseits des Städtchens, liegt eine hohe Hügellandschaft mit reichem Baumbestand. Im Osten, hinter meinem Heim, türmen sich Felsen in zerklüfteter Staffelung bis hinauf zu einem gezackten Bergmassiv, auf dem das ganze Jahr über Schnee liegt. Obwohl sich Flesse von meiner Terrasse aus mit einem Blick überschauen lässt, weist der Ort ein Opernhaus, einen Passagier- und Rangierbahnhof, ein Gemisch aus faszinierenden und exzentrischen Läden, zwei ausgezeichnete Hotels und ein Kasino auf. Wenn ich nicht auf Reisen bin und für Madame d’Ortolan oder ein anderes Ratsmitglied der Expédience arbeite, verbringe ich meine Zeit hier. Bei nassem Wetter lese ich in meiner Bibliothek, an schönen Tagen wandere ich in den Bergen, und am Abend besuche ich die Hotels und das Kasino.
Doch auch wenn ich in eine andere Welt und einen anderen Körper wechsle, habe ich hier noch ein Leben; eine Version von mir bleibt zurück, wohnt weiter in meinem Haus und Leib und verrichtet alle mit der Existenz verbundenen Tätigkeiten. Dem Vernehmen nach bin ich in Gestalt dieses restlichen Selbst allerdings ausgesprochen langweilig. Nach dem Bericht meiner Haushälterin und einiger anderer, die mir in diesem Zustand begegnet sind, verlasse ich nie die eigenen vier Wände, schlafe sehr viel, esse gleichgültig die Speisen, die für mich
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