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Welten - Roman

Titel: Welten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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vorbeikamen. Als es wieder ruhig wurde, nahm ich ihre Hand.
    Sie wich zurück und drehte sich um. »Möchten Sie ein paar Schritte mit mir machen?«
    »Wohin?«
    »Muss es irgendwohin sein? Können wir nicht einfach gehen?«
    »Ich glaube, wenn Sie stehen bleiben, werden Sie feststellen, dass Sie irgendwo angekommen sind.«

    Sie fixierte mich. »Ich dachte, Geografie ist nicht Ihre Stärke.«
    Wir holten unsere Umhänge. Draußen auf der Piazzetta und auch auf der Piazza fiel leichter Nieselregen, der die Lichterreihen hoch auf den Mauern um den großen Platz trübte.
    Sie führte mich nach Norden durch enge, gewundene Calles und auf kleinen Bogenbrücken über dunkle, schmale Kanäle, und schnell ließen wir die Menschen in und um San Marco hinter uns. Unsere Schritte hallten von den überhängenden Gebäuden wider, und unsere Schatten - unerträglich dramatisch in den glockenförmig gebauschten Umhängen - tanzten um uns wie geisterhafte Begleiter, vor uns, hinter uns, neben uns oder nur als dunkle Pfütze zu unseren Füßen.
    Sie fand eine kleine Bar in einer schlecht beleuchteten Calle, die so eng war, dass wir nicht nebeneinander hätten gehen können. Das Lokal war zwielichtig und leer bis auf zwei Arbeiter weit hinten, die sich an ihrem Bier festhielten und uns mit leicht verachtungsvollen Blicken bedachten, und eine zierliche blonde Bardame in Jeans und ausgebeultem Pullover. Meine Begleiterin bestellte einen Spritz und eine Flasche stilles Wasser. Auch ich nahm einen Spritz.
    Mit Klemmbrett und Stift verschwand unsere Wirtin in einem Vorratsraum. Wir blieben vor der Bar stehen. Ich nahm die Maske ab und wandte mich mit erwartungsvollem Lächeln meiner Piratenkapitänin zu. »So.«
    Sie nickte, traf aber keine Anstalten, sich ihrer Maske zu entledigen. Nur die Mütze nahm sie ab. Der Moment hätte vielleicht nach einem Kopfschütteln gerufen, ob kokett oder nicht, doch sie ließ nur ohne Umstände die langen
schwarzen Locken über ihre Schultern fallen. Der Arbeiter gegenüber blickte auf und nickte seinem Kameraden zu, der sich umdrehte. Beide starrten sie eine Weile an. Sie legte den Kopf zurück und ließ in einem Zug die halbe Flasche Wasser durch die heftig arbeitende Kehle rinnen. Dann wischte sie sich mit zwei Fingern den Mund ab und nippte, wieder ganz Dame, dezent an ihrem Spritz. Obwohl es in der Bar ziemlich schummerig war, eröffnete mir die Beleuchtung über der Flaschengalerie den bisher besten Blick auf ihre Augen hinter den mandelförmigen Löchern in der schwarzen Maske. Ich glaubte ein helles Funkeln zu erahnen: blassblau oder -grün oder zartbraun.
    »Ist jetzt wohl die Zeit für Namen gekommen?«, fragte ich.
    Sie verneinte stumm.
    »Ich könnte Ihnen meinen sagen, ob es Ihnen gefällt oder nicht.«
    Vorsichtig und sanft legte sie mir einen Finger auf die Lippen. Er war warm und roch nach einem dunklen, öligen Parfüm. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie den Handschuh ausgezogen hatte. Der Finger drückte kurz gegen meinen Mund, dann zog er sich zurück. Ich hätte ihn vielleicht küssen können, genauso sanft, doch dafür war kaum Zeit gewesen.
    Sie lächelte. »Kennen Sie das Wort ›Emprise‹?«
    Seufzend sann ich nach. »Ich glaube nicht.«
    »Es bezeichnet eine gefährliche Unternehmung.«
    »Ach?«
    »Ja, tatsächlich. Sind Sie an gefährlichen Unternehmungen beteiligt, Sir?«
    Ich beugte mich vor und schaute mich nach beiden Seiten um. »Bin ich gerade an einer beteiligt?«

    Sie neigte den Kopf ein wenig nach vorn. »Noch nicht«, flüsterte sie. »Nicht mehr, als Sie es gewohnt sind. Weniger sogar. Im Moment sind Sie doch außer Dienst, oder?«
    »Außer Dienst?«, fragte ich verwirrt.
    »Nicht auf Reisen.«
    »Ach so. Ja, in diesem Sinn trifft das wohl zu.«
    Einer der Arbeiter trat hinter sie und klopfte mit den Knöcheln auf den Holztresen. Die blonde Frau kam wieder aus dem Hinterzimmer. Meine Begleiterin wollte etwas sagen, stockte aber. Sie wandte sich um und musterte den Arbeiter, der gerade zwei Bier bei der Bardame bestellt hatte. Sein Mund stand noch offen.
    Der Arbeiter und die Wirtin schauten sich direkt in die Augen. Dann erzitterte sie, und er zuckte. Mehr war nicht zu erkennen, doch sie hatten sich verändert. Körper und Gesicht schienen identisch, waren es aber nicht. Der Blick, die Haltung, die Körpersprache - was es auch war, es verwandelte sich im Bruchteil einer Sekunde, und zwar mehr, als ich es je für möglich gehalten hätte, als wären sämtliche

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