Welten - Roman
erschafft und mit einem Schlag den ersten Anschein von Ordnung und Chaos und den Begriff von Zeit entstehen lässt, alles zugleich. Es braucht sowohl unendlich lange und exakt gar keine Zeit.
Nach dem Anfang alles andere.
Ausdehnung über Ausdehnung; eine Explosion, die sich nicht zerstreut, verlangsamt oder Energie verliert, sondern genau im Gegenteil immer weiter und mit wachsender Kraft, Intensität, Komplexität und Reichweite aus sich hervorbricht.
Das sollten wir uns vorstellen.
»Schließt die Augen«, hieß es, und wir folgten der Anweisung. Mit geschlossenen Augen liege ich hier und lausche auf die Geräusche der Klinik - scheppernde Töpfe, ein hustender Patient in einem fernen Zimmer, das blechern hallende Geplapper aus dem Radio in der Schwesternstation. Und ich denke zurück an den Tag im Vortragssaal, als ich wie alle anderen mit geschlossenen Augen versuchte, etwas zu sehen und zu ergründen.
Aus hinreichender Entfernung würde es wirken wie eine Kugel, wie eine Welt mit einer aufgewühlten, veränderlichen und sich ausdehnenden Oberfläche oder wie ein riesiger, wachsender Stern. Innerhalb der Grenzen unseres
Verstandes war es schlicht die Idee von Rundheit in so vielen Dimensionen, wie man es sich vorstellen oder einbilden konnte.
Dies ist das wahre Universum, das Universum der Universen, die absolute Grundlage, jenseits der es nichts gibt. Natürlich völlig unbegreiflich, auch wenn man es durch die Vorstellung schon transzendiert hat, weil man sich ausgemalt hat, es von außen zu betrachten, wo es doch gar kein Außen geben kann. Das könnte man schon als eine Art Sieg auffassen. Allerdings erinnerte mich das immer an den Griff nach dem letzten Strohhalm.
Manche Dinge bedeuten zu viel, um etwas zu bedeuten. Und dies war das Paradebeispiel dafür. Um irgendeine brauchbare Bedeutung zu erschließen, musste man erst die Oberfläche dieser unaufhaltsam sich entfaltenden Ungeheuerlichkeit näher unter die Lupe nehmen.
»Lasst die Augen zu und stellt es euch vor«, forderte uns die Lehrerin auf.
Wir saßen in einem Hörsaal der Fakultät für Transitionswissenschaften an der Universität für Praktische Talente in der Stadt Aspherje in Calbefraques. Unsere Lehrerin wollte, dass wir die Augen schlossen, um nicht abgelenkt zu sein und es uns leichter vergegenwärtigen zu können. Es folgten Gekicher, Aufschreie und Zischen, da manche Studenten die Sache nicht ganz ernst nahmen und die geschlossenen Augen ihrer Kommilitonen zum Kitzeln, Stoßen oder Grapschen nutzten.
Die Lehrerin stieß einen theatralischen Seufzer aus. »Ich muss mich wohl entschuldigen; es kann noch etwas dauern, bis auch die letzten Anwesenden ihre Verhaltensmuster aus der Grundschule überwunden haben.« Dann wurde ihre Stimme wieder sachlich. »Stellt euch einfach
diese äußerste Rundheit vor, und dass ihr ganz nah dran seid. Eine Oberfläche: höchst komplex, runzlig, gezackt, rissig, mit ständig wachsenden Strukturen wie Bäumen und Büschen, bedeckt mit Fasern und Ranken.«
»Madame«, meldete sich eine amüsierte Stimme, »ich sehe ein krumpeliges, haariges Ei.«
»Wenn du nochmal so vorlaut bist, Meric, schreibst du einen Strafaufsatz.« Wieder ein lautes Seufzen. »Schaut es euch aus der Nähe an«, fuhr sie fort. »Noch näher.« Sie klang zugleich belustigt und ernst. »Diejenigen unter euch, deren Gedächtnis und Fantasie sich schon über das Insektenstadium hinaus entwickelt haben, könnten jetzt vielleicht auf das Konzept der Fraktale zurückgreifen. Das wäre hilfreich. Angenommen, ihr habt euch erfolgreich eine maximal komplexe Oberfläche auf Mr. Merics haarigem Riesenei vorgestellt …« Sie wartete, bis sich die vereinzelten Heiterkeitsbekundungen gelegt hatten. »… dann müsst ihr euch immer mehr davon ausmalen, egal, wie nahe ihr ranzoomt. Selbst das winzigste Härchen, die mikroskopisch kleinste Ranke zeigt bei näherer Betrachtung eine Oberfläche aus Zacken, Falten, Baumstrukturen und Fasern, die praktisch identisch sind mit dem, was ihr vor dem Zoomen gesehen habt. Das sind dann Gestalt gewordene Fraktale. Je näher ihr rangeht, je tiefer ihr schaut und je stärker ihr vergrößert, desto mehr seht ihr vom Gleichen. Nur der Maßstab hat sich verändert.«
»Ich habe Mühe, mir das vorzustellen«, sagte eine Studentin.
»Gut.Wenn du Mühe hast, versuchst du es und hast noch nicht aufgegeben. Irgendwann schaffst du’s. Und behaltet dabei bitte alle im Kopf, dass sich das alles nicht nur in drei
Weitere Kostenlose Bücher