WELTENTOR 2013 - Fantasy (German Edition)
Wind wieder stärker wurde. Während ihrer gesamten Unterhaltung mit dem Regen hatte Avave sich zurückge -halten. Der Luftstrom war gerade stark genug, um sie nicht in die Tiefe stürzen zu lassen, doch sie wusste, dass die Geduld des Königs nicht unendlich war. Man ließ einen Elementar nicht warten.
Utanels Stimme klang traurig.
Keiner von uns könnte das verhindern. Nur, wenn die Menschen sehen, wie du das Schloss betrittst, wird alles gut werden. Ich verspreche es Dir.
Sie verschränkte die Finger mit denen des Regenmeisters. Sie konnte ihn fühlen, als wäre er wirklich da. Warme Regentropfen streichelten sanft ihr Gesicht. Sie näh erte sich ihm. Gerade, als sie ihren alten Freund zum ersten Mal küssen wollte, erfasste sie eine Sturmböe und zerrte sie grob vom Regenmeister fort. Der Wind zerrte an ihrem Kleid und zerfetzte den nassen Stoff.
Avave verlor die Geduld. Nun war spätestens dem letzten Menschen unter ihnen klar, dass hier oben etwas s ehr Seltsames vorging. So hatte sich wohl niemand den Einzug der Elementar-Hoheit in ihr neues Zuhause vorgestellt.
Der Wind zog Aurora immer stärker zum Schloss des Windkönigs. Utanel folgte ihr, hielt sie fest und stützte sie.
Seine grauen Augen schienen direkt in ihr Herz zu blicken. Warum war ausgerechnet sie es, die eine solche Entscheidung treffen musste? Wo war die Gerechtigkeit, wo war das Gleichgewicht, von dem die Tempel-mutter jahrelang gepredigt hatte? Sie sah an sich hinab. Das Kleid war zerrissen und so durchnässt wie ihre schwarzen Locken.
Aurora war froh, dass ihr Gesicht bereits nass war. So konnte Utanel die Tränen nicht sehen, die ihr über das Gesicht rannen. Sie verfluchte die Welt und ihre Verantwortung als Elementar-Hoheit. So hatte sie sich das alles nicht vorgestellt.
„Verlass mich nicht”, flüsterte sie. Es war egoistisch, doch es war ihr egal. Im gleichen Moment, als sie die Worte ausgesprochen hatte, löste sich der Körper des Elementars im Regen auf. Aurora wusste nicht, ob Utanel noch bei ihr war. Verzweifelt blickte sie sich um, rief seinen Namen, tastete durch den Regen, doch ihr Regenmeister blieb ver-schwunden Und schließlich ließ der Regen langsam nach.
Inzwischen war sie dem Schloss so nahe, dass sie das goldene Tor fast berühren konnte. Der Wind hielt sie fest wie eine riesige Hand und zog sie unerbittlich weiter.
Die Welt unter ihr war winzig geworden. Sie konnte die einzelnen Menschen unter ihr nicht mehr erkennen.
Das goldene Tor des hohen Zauns, welcher das Schloss des Wind -königs umgab, öffnete sich wie von Geisterhand. Der Wind wurde wärmer und trocknete nach und nach ihre Kleider und ihre Haare.
Bevor der Regen endgültig aufhörte, rief sie ihrem Freund entgegen: „Sieh` mich an. Ich werde seinen Ansprüchen nicht genügen! Wenn er mich verbannt, gehe ich mit dir! Hörst du?”
Doch Utanel antwortete ihr nicht. Sie wusste nicht, ob er ihr Ver -sprechen gehört hatte.
Aurora sah an sich herab. Sie was schmutzig. Das Kleid hing in Fetzen von ihrem Körper und ihre Haare standen in wilden Locken von ihrem Kopf ab. Sie würde zu Utanel zurückkehren. Alles in ihr klammerte sich an diese Hoffnung.
Doch sie schwebte weiter. Flüchtig fuhr sie sich mit den Fingern durch ihre Haare, um die wilden Locken ein wenig zu ordnen und strich den zerfetzten Stoff ein wenig glatt.
Obwohl sie niemals dem Windkönig gehören wollte, verlangte doch ihre Ausbildung, dass sie sich nun in ihrem besten Licht präsentierte.
Die Entscheidung, zum Windkönig zu gehen, lag nicht an ihr. Sie war vor Jahren getroffen worden, als Avave sie unter dem Feuerhimmel zu einer seiner Favoritinnen erwählt hatte.
Inzwischen war sie fast bis an das Schloss herangeschwebt.
Der Wind wurde schwächer und mit Erstaunen erkannte Aurora, dass sie einen festen Untergrund unter ihren Füßen hatte.
Weißer Sand knirschte unter den Sohlen ihrer hellblauen Schuhe. Der Anblick war atemberaubend schön. Trotzdem hatte Aurora das Gefühl, einen Kerker zu betreten.
Es war völlig still, als sie sich dem riesigen, goldenen Eingangstor des Schlosses näherte.
Auroras Innerstes war aufgewühlt. Alles in ihr sträubte sich dagegen, weiterzugehen. Doch ihre Erziehung ließ eine Flucht nicht zu. Also ergab sie sich in ihr Schicksal.
Als sich das Tor öffnete, blieb Aurora stehen und starrte in die hellen, grauen Augen des Windkönigs. Auf seinen Lippen lag ein warmes Lächeln und seine feingliedrige Hand streckte sich ihr entgegen.
Hallo
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